: Eine Art verspäteter Beach Boy
Tennisprofi Patrick Rafter begeistert das Publikum bei der ATP-WM und würde gern in die Fußstapfen von Boris Becker treten. In Australien hat er einen Boom ausgelöst ■ Aus Hannover Matti Lieske
„Wo ist Boris?“ Ausgerechnet diesen Satz hatte sich ein Touristikunternehmen zum Werbespruch für die ATP-WM erkoren und ihn auch noch kurz nach dem Match Sampras – Moya per Mini- Zeppelin durch die Halle geschickt. Sehr zum Mißfallen der Veranstalter, denen es am liebsten wäre, wenn die Leute ganz schnell vergessen würden, daß es mal einen Tennisspieler namens Boris Becker gab, ohne den ein Masters- Turnier ausgerechnet in Hannover möglicherweise nicht sehr sinnvoll und zugkräftig ist.
Blödsinn, grummelt Ion Tiriac: „Dies ist keine Mickymaus-Veranstaltung, sondern die Weltmeisterschaft der Tennisprofis.“ Und außerdem: „Wir könnten auch vor zwei Leuten spielen.“ Das Wesentliche sind schließlich die Fernsehübertragungen.
Die Sorge um die Zuschauer war aber ohnehin überflüssig. „Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß die Deutschen großes Tennis lieben“, hat Pete Sampras gesagt. Solches bot er zwar nicht am ersten Tag, dennoch sahen rund 12.000 Menschen seine Niederlage gegen Carlos Moya, und auch bei den beiden anderen Matches ging das Publikum so begeistert mit, daß Patrick Rafter nach seinem Sieg gegen Greg Rusedski von einer „großartigen Atmosphäre“ sprach.
Der smarte Australier hat gut reden. Die Zuschauer sind meist auf seiner Seite, und der 24jährige scheint dazu prädestiniert, für die ausgedienten Altstars in die Bresche zu springen. In seiner Heimat ist Rafter spätestens seit Herbst dieses Jahres, was Boris Becker für die deutschen Tennisfans war. Da gewann er die US Open und stieß als erster Australier seit John Newcombe 1974 unter die ersten Fünf der Weltrangliste vor.
Australien, eine Art Pflegemutterland des Tennis, hat nach den Zeiten eines Newcombe, Laver, Emerson eine lange Agonie durchgemacht, unterbrochen nur von der kurzen Pat-Cash-Blüte vor zehn Jahren. Dann kam Rafter und hat einen wahren Boom ausgelöst. Gemerkt hat er davon bisher nicht viel. Das Hauptquartier des Strandliebhabers befindet sich während der Saison auf den Bermudas. Nach Australien kehrt er erst nach der ATP-WM zurück. „Es heißt, daß dort eine Menge los ist“, sagt Rafter, „aber ich werde nichts Genaueres wissen, bis ich nach Hause komme.“
So wie die meisten Emporkömmlinge dieser Saison – Rusedski, Björkman, Corretja – ist Rafter beileibe kein Frischling mehr. Mit seinen fast 25 Jahren ist er gerade mal ein Jahr jünger als Pete Sampras, der seit Jahren das Tennis dominiert. Daher kann er auch nur spöttisch lachen, wenn man ihn mit gerade mal zwei Turniersiegen zum nächsten Sampras hochstilisieren will: „Das ist nicht fair.“ Der nächste Agassi oder Becker zu sein, kann er sich eher vorstellen. „Boris hatte viele, viele Jahre lang beständige Resultate, wenn ich das in den nächsten Jahren schaffe, kann ich vielleicht in seine Fußstapfen treten.“
Von den Aufsteigern des Jahres, zu denen auch noch Moya, Rios und Kuerten gehören, hat Rafter in jedem Fall das größte Potential zum globalen Publikumsliebling. Im Gegensatz zu Sampras, der das Charisma von, sagen wir, Hannover besitzt, zeigt der Mann aus Queensland Emotionen auf dem Platz, ist hin und wieder für ein Späßchen gut und trägt in einer Zeit, wo selbst die argentinischen Fußballer zum Kurzhaarschnitt wechseln, hartnäckig die Haare lang. Rafter wirkt wie eine Art verspäteter Beach Boy, dem man statt des Surfbretts ein Tennisracket in die Hand gedrückt hat.
Das kommt an, vor allem bei den jungen Damen, die ihn schon 1995, als er bei den Australian Open erstmals für Furore sorgten, genauso lautstark auflauerten wie Andre Agassi, der darob nicht zögerte, den Rivalen hochkant aus dem Turnier zu befördern.
Danach lief es schlecht für den Serve-and-Volley-Spezialisten mit Boygroup-Appeal. Das Scheitern gegen Agassi hatte ihn schwer mitgenommen, hinzu kamen Verletzungen. Bald sprach kaum noch jemand von Patrick Rafter. Mark Philippoussis hieß inzwischen die Hoffnung des australischen Tennis. Auch dieses Jahr begann schlecht, mit einer Erstrunden- Niederlage bei den Australian Open in Melbourne. Doch dann spielte er eine hervorragende Sandplatzsaison mit Halbfinale bei den French Open und steigerte sich während des Sommers bis zum Sieg in Flushing Meadow. Danach war er auch in der Halle, wo es ihm sonst gar nicht behagt, erfolgreich.
Als Nummer drei der Weltrangliste kam er nach Hannover, sein erklärtes Ziel ist es, die Stadt als Nummer zwei zu verlassen. An dieser Position sitzt bislang Michael Chang, und wenn er den verdrängen will, muß er bei dieser ATP-WM mindestens ins Halbfinale. Nicht ganz einfach, denn sein letzter Gruppengegner heißt Pete Sampras, und gegen den hat Rafter bisher von acht Matches nur ein einziges gewonnen, das erste, 1993 in Indianapolis.
Kein Wunder, daß der Australier dieser Partie nicht gerade mit Begeisterung entgegenblickt. Aber, verkündet er schmunzelnd: „Ich freue mich sowieso nur auf Matches, wenn ich gegen die Nummer 300 oder 400 spiele.“
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