: Ein Mann wie das Jahrhundert
■ Stefan Lorant, der den Fotojournalismus revolutionierte, starb mit 96
Er war ein Jahr jünger als das 20. Jahrhundert, und drei Jahre vor dessen Ende ist Stefan Lorant nun gestorben. Doch es ist mehr als dieser Zusammenfall der Lebensabschnitte, was das Leben, das am Freitag in Rochester, Minnesota, zu Ende ging, mit dieser zerrissenen Dekade verbindet. Die Geschichte beginnt 1901 in Budapest. Schon 1919 naht sie sich der Jahrhundertgeschichte, als Lorant vor der faschistischen Horthy-Diktatur flüchtet und in der tschechoslowakisch-deutschen Grenzregion festhängt, weil er kein Visum hat. Doch Grenzen scheinen bald überhaupt kein Problem mehr für Stefan Lorant. Das fängt schon damit an, als ihm Franz Kafka einen Job als Geiger im stillen Kino von Dečin vermittelt. Damit verdient er sich Visum und Fahrkarte nach Berlin, wo er zum führenden Kameramann wird und eines Tages auch die junge Marlene Dietrich ablehnt – sie solle lieber heiraten.
In Leipzig trifft er den Gründer des schöngeistigen Magazin und übernimmt bald die Redaktion. Bald ist er Chefredakteur der Münchner Illustrierten Presse und erfindet für sie, wie es in Biographien lakonisch heißt, die Bildreportage. Schon hier begeistert, was später als seine große Kunst gilt: Er weiß Fotos einfach und effektiv mit Text zu kombinieren. Dazu kommt sein politisches Gespür und Gewissen, was für Lorant identisch ist. Am 30. Januar 1933 gelangt er in die Reichskanzlei und hat das erste Interview mit dem Reichskanzler Hitler, die ersten Bilder der Kabinettssitzung. Im März stecken die Nazis Lorant wegen „bolschewistischer Umtriebe“ ins Gefängnis, aus dem ihn erst ein Protest von Ungarns Regierung ein halbes Jahr später befreit.
In England und später in Amerika wird er zum journalistischen Genius: Er macht das Londoner Weekly Illustrated, das Vorbild für Time und Life, erfindet die Picture Post, eine der Design-Ikonen des Jahrhunderts, und entwirft ganz allein das legendäre Lilliput. In Artikeln und Büchern beschäftigt er sich mit der Naziherrschaft und geht später auf Anregung Churchills nach Amerika. Lorant plante immer eine Biographie. „Ich hatte sechs Leben“ sollte sie heißen. Sie ist immer ein Fragment geblieben. lm
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen