: Ihr Freund, das Tagebuch
Ein Mann steht wegen sexuellen Mißbrauchs vor Gericht. Die Anklageschrift: das Tagebuch seiner toten Stieftochter ■ Von Elke Spanner
Ihr engster Freund war ihr Tagebuch. Ihm und nur ihm vertraute Annika an, was sie erlebte, dachte und fühlte. Ihre Jugendlieben und Schulprobleme, Streit mit Freundinnen und all das, was ihr in der Pubertät zu schaffen machte. Auch was sie mit ihrem Stiefvater erlebte, schrieb sie auf: Über ein halbes Jahr hinweg soll er die damals 13jährige sexuell mißbraucht haben. So steht es in Annikas Tagebuch, so steht es auch in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft am Landgericht, vor dem gestern der Prozeß gegen Hans-Joachim L. eröffnet wurde.
Längst sind die Tagebücher keine privaten Schriften mehr, sondern amtliche Dokumente geworden, denn allein auf sie und auf zwei Briefe an einen Freund kann sich die Anklage stützen. Annika kann nicht mehr nach ihren Erlebnissen befragt werden. Sie starb mit 16 an der Eß- und Brechsucht Bulimie. Nach ihrem Tod fand die Mutter die Tagebücher und zeigte ihren Ex-Mann an.
Der scheint den Prozeß auf die leichte Schulter nehmen zu wollen. Mit einem belustigten Lächeln nimmt er auf der Anklagebank Platz, scherzt mit seinem Rechtsanwalt, und sein Grinsen, so scheint es, soll für die Dauer des Prozesses nicht mehr von seinem Gesicht weichen. Nein, hier kann ihm nichts und niemand etwas anhaben, signalisiert sein Gestus. Der 49jährige Kaufmann wirkt, als sei er nur kurz aus dem Büro auf einen Sprung vorbeigekommen. Erst als die Anklage verlesen wird, scheint er gewahr zu werden, daß er derjenige ist, über den soeben berichtet wird. Nahezu ungeduldig schüttelt er den Kopf, als der Staatsanwalt die elf Anklagepunkte verliest. Sexuelle Nötigung in mehreren Fällen, erzwungener Beischlaf und Oralverkehr, manchmal mit Schlägen, immer mit Drohungen durchgesetzt. Tatort: Annikas Zimmer, das Bad, der Keller, kurzum: zu Hause. Dort, wo eine Dreizehnjährige sich geborgen und nicht bedroht fühlen sollte. Dort, wo es keine ZeugInnen geben kann.
Der Kaufmann bestreitet die Taten. Mit diesen „schweinischen und brutalen“Geschichten, die das Tagebuch beschreibt, habe er nichts zu tun. So steht seine Aussage gegen das, was das Tagebuch offenbart, und ob ihm oder Annikas Zeilen Glauben geschenkt wird, ist die prozeßentscheidende Frage.
Sie wird unter Ausschluß der Öffentlichkeit behandelt, die ausgesperrten ZuhörerInnen diskutieren die Frage auf dem Flur. Die männliche Bereitschaft ist groß, Annikas Schilderungen zu bezweifeln. „Es gibt doch nur die Tagebücher“, belehrt ein Journalist die Runde, und es ist eine Journalistin, die dagegenhält: „Es gibt die Tagebücher.“
Sie zu beurteilen, ist Sache von ExpertInnen geworden. Daß sie Märchen enthalten, soll ein Gutachter bekräftigen, den die Verteidigung des Vaters beauftragte. Zu einem anderen Ergebnis kommt Prof. Hermann Wegener von der Kieler Universität, der für das Gericht eine Expertise fertigte: Annika, so sein Resümee, hat nicht phantasiert, sondern erlebt.
„Bei sexueller Gewalt wird immer die Glaubwürdigkeit des Opfers und nicht die des Täters in Frage gestellt“, hat die Psychologin Uta Boyksen durch ihre langjährige Arbeit beim „Notruf für vergewaltigte Frauen und Mädchen“erfahren. Doch daß Mädchen sich sexuellen Mißbrauch selbst ausdenken, sei sehr unwahrscheinlich. Das weiß auch eine in der feministischen Mädchenarbeit tätige Sozialpädagogin. „Das Thema sexueller Mißbrauch kennen viele Mädchen, und was das ist, wissen sie wohl“, sagt sie. „Aber haben sie es nicht selbst erlebt, können sie keine Details oder Gefühle dazu benennen.“
Der Prozeß wird fortgesetzt.
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