An Stoff ranzukommen ist ein Kinderspiel

■ Mindestens 200.000 Berliner sind Alkoholiker, über 1.000 sterben jährlich am Suff. Der volkswirtschaftliche Schaden wird bundesweit auf bis zu 50 Milliarden Mark im Jahr geschätzt

Ein Zwölfjähriger schiebt der Kassiererin im Supermarkt zwei Dosen Bier, eine Tüte Milch und ein Stück Butter zu. Was passiert? Entweder bekommt der Junge die Rechnung genannt, bezahlt und geht. Oder die Kassiererin hält das Bier zurück, weil der Kunde offensichtlich noch keine 16 Jahre alt ist. Vielleicht sollte man es auf einen Versuch ankommen lassen. Aber die Landesdrogenbeauftragte Elfriede Koller glaubt, das Ergebnis auch so zu kennen. „In jedem zweiten bis dritten Supermarkt gehen Alkoholika auch bei Kindern anstandslos über den Tisch.“

Eigentlich ist die Abgabe von Bier an unter 16jährige verboten. Spirituosen dürfen nicht an Minderjährige verkauft werden. Aber mit dem Verkauf von Alkohol ist es wie mit dem Kampf gegen Hundekot. Die beste Verordnung nützt nichts, wenn keiner auf die Einhaltung achtet.

Was den Konsum von Bier, Wein und Schnaps angeht, sind die Deutschen in Europa Spitze. Mit einem Pro-Kopf-Verbrauch von 11,2 Litern reinem Sprit im Jahr 1995 (1980 lag er bei 12,7 Liter) belegt die Bundesrepublik allerdings als bevölkerungsreichster Staat nur den 5. Platz unter 32 europäischen Ländern. Die Zahl der Alkoholabhängigen wird vom Deutschen Institut gegen Suchtgefahren (DHS) auf 2,5 Millionen geschätzt – fast viermal soviel wie vor zehn Jahren. In Berlin wird von mindestens 200.000 Alkoholabhängigen und mindestens 1.000 Alkoholtoten jährlich ausgegangen. Unter Berufung auf einen ominösen Suff-Atlas meldete Bild Mitte Oktober, daß in der Hauptstadt bundesweit pro Kopf die meisten Alkoholiker leben. Rolf Hüllingshorst, Geschäftsführer des DHS, bestreitet diese Zahlen: Berlin halte bezüglich Alkoholsucht „eine Mittelposition, und einen Suff-Atlas gibt es nicht“. In Ballungsgebieten seien immer mehr Abhängige zu finden als in ländlichen Regionen. Da sei die soziale Kontrolle größer.

Laut einer Erhebung des Instituts für Therapieforschung (IFT) trinken in Berlin etwa 18 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen 12 und 24 Jahren regelmäßig Alkohol. Am höchsten sei der schädliche Alkoholkonsum in der Altersgruppe der 25- bis 44jährigen, mit Ausnahme der Westberliner Frauen. Im Ostteil der Stadt nähmen 35 Prozent der Männer täglich mehr als die schädliche Dosis von 40 Gramm Alkohol zu sich – das entspricht etwa einem Liter Bier. Im Westteil seien es 32 Prozent der Männer. Bei den Frauen, bei denen die schädliche Menge bei 20 Gramm liegt, sind es 31 Prozent im Ostteil und 14 im Westen.

Daß Alkoholmißbrauch nicht nur seelische und körperliche Folgen, sondern auch immense gesellschaftliche Kosten bedeutet, hat bislang zu kaum zu politischen Konsequenzen geführt. Das DHS schätzt den volkswirtschaftlichen Schaden, der jährlich bundesweit durch Alkoholmißbrauch entsteht, auf 30 bis bis 50 Milliarden Mark. Die Steuereinahmen durch Alkohlverkauf belaufen sich dagegen nur auf acht Milliarden.

Statt am Tabu Alkohol zu rütteln, werden die illegalen Drogen zum Buhmann stilisiert. Bei der Gesundheitsministerkonferenz am 21. November stand das Thema Alkohol zwar ausnahmsweise auf der Tagesordung, aber zur Verabschiedung eines „Aktionsplans Alkohol“, der unter anderem gesundheitliche Warnhinweise auf Bier,- Wein- und Schnapsflaschen vorsieht, kam es nicht. Statt dessen beschlossen die Minister einen wachsweichen Entschließungsantrag. Darin sind lediglich gesetzliche Maßnahmen zur Reduzierung des Alkoholangebots in Kantinen, Tankstellen und Supermärkten sowie bei der Alkoholwerbung festgelegt. Der vom Regionalbüro der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1992 beschlossene „Europäische Aktionsplan Alkohol“, der eine Senkung des Alkoholkonsums um 25 Prozent bis zum Jahr 2000 vorsieht, ist damit – zumindest für Deutschland – in weite Ferne gerückt. Die Spitzenverbände der Alkoholindustrie waren schon vor der Gesundheitsministerkonferenz Sturm gelaufen. „Ein Jahr vor den Bundestagswahlen an der Volksdroge Alkohol zu rütteln, hätten die großen Parteien sowieso nicht gewagt“, meint der Fachsbereichsleiter Sucht des Berliner Caritas-Verbandes, Rainer Düffort. Plutonia Plarre