Und Hannah Arendt hätte sich gefreut

Arendt-Preis für Joachim Gauck und Freimut Duve. Gemeinsame Zeremonie von Bremer Senat, Uni und Böll-Stiftung  ■ Von Christian Semler

Bremen (taz) – Die Wahl roch etwas nach austeilender Ost-West- Gerechtigkeit. Aber als am Samstag Freimut Duve und Joachim Gauck der diesjährige Hannah- Arendt-Preis verliehen wurde, waren es die Preisträger selbst, die diesbezügliche Zweifel ausräumten. Ausgewogene Belobigungen und artige Dankesworte sorgen in der Regel dafür, daß Preisverleihungen nicht zu Highlights der politischen Kultur geraten. Es kam anders. Beide Preisträger ließen absichtsvoll die Gelegenheit verstreichen, sich und Hannah Arendt mittels eines angestrengten Diskurses zu würdigen. Schließlich sind sie keine Philosophen, sondern politische Akteure. Fast aus dem Handgelenk entwarfen sie Selbstbiographien, die Brüche nicht zudeckten, Irrtümer nicht verkleinerten. Und sie suchten Streit, liebenswürdig, höflich, aber bestimmt.

Vor allem Joachim Gauck rechnete mit dem „romantischen Protestantismus“ ab, der ihn gehindert habe, zwei wesentlichen Impulsen seiner Jugend treu zu bleiben: der Hinwendung zu den armen, unterdrückten Teufeln und dem Respekt vor schlichten Tatsachen des Lebens. Dabei schreckte der gewesene Pastor nicht davor zurück, in Bremen, einer der heiligen Geburtsstätten der sozialdemokratischen Ostpolitik, deren Chefarchitekten, Egon Bahr, anzugreifen. Was einstmals ein großer, imaginativer Neubeginn gewesen war, der Wandel durch Annäherung, sei in den siebziger Jahren erstarrt, sei zu einem Instrument der Affirmation der realsozialistischen Machteliten geworden. Gauck bestand darauf, sich wohlzufühlen, „angekommen“ zu sein, trotz der drückenden ökonomischen Probleme des vereinten Deutschland. Es war diese Haltung, dieser rhetorische Gestus, der die Linken, beispielsweise in der Person des Bürgermeisters Henning Scherf, herausfordern sollte. Die Herausforderung gelang. Scherf ließ sich von der Stimmung unangestrengten Nachdenkens anstecken und erwog Kritisches zur öffentlichen Person des Preisträgers Gauck. Sogar Rita Süssmuth, die die Laudatio hielt, legte die Balancierstange beiseite. Sie kontrastierte Hannah Arendts Feier der Politik und des politischen Handelns mit der Elendsgestalt, in der sich die deutsche Politik gegenwärtig präsentiere – freilich, ohne eine Remedur anzubieten. Hannah Arendt hätte sich über Preisträger wie Preisverleiher gefreut. Schrieb sie doch über das politische Leben, es sei „die hohe Freude, die dem schieren Zusammenkommen mit seinesgleichen innewohnt, die Befriedigung des Zusammenhandelns und die Genugtung, öffentlich in Erscheinung zu treten, sich sprechend und handelnd in die Welt einzuschalten und einen neuen Anfang zu stiften“.

Als 1989 wider alle Voraussicht die Vereinigung beider deutscher Staaten anstand, hätte eigentlich die Stunde der politischen Philosophie Hannah Arendts schlagen müssen. Die Begründung der Freiheit war ihr Thema gewesen. Aber die Ansätze schöpferischer Neubestimmung politischen Handelns versandeten rasch, wie das Schicksal des Versuchs zeigt, eine neue deutsche Verfassung auszuarbeiten. Der Raum des Politischen wurde erdrückt durch die ökonomische Dynamik, die dem Anschluß folgte. So wurde es eine Zeitlang zwar fast obligatorisch, Hannah Arendt zitierend zu bemühen, ihr republikanisches Denken aber fiel auf dürren Boden. Den Linken war sie zu antitotalitär, die Rechten hatten sie im Verdacht, mit Formen der unmittelbaren Demokratie zu liebäugeln. Außerdem hatte sie sich mit Teilen der israelischen Öffentlichkeit angelegt. Also Vorsicht. Um so bemerkenswerter der Versuch einer Reihe Bremer Intellektueller, allesamt aufgeklärt (gewordene) Linke, dem Denken Hannah Arendts Raum zu verschaffen. Dieser Gruppe, angesiedelt im Nirgendwo zwischen Bündnisgrünen, Wertkonservativen und linksliberalen SPDlern, gelang es, den Bremer Senat, die Uni sowie die Heinrich-Böll-Stiftung für den Gedanken eines Hannah-Arendt-Preises zu erwärmen. Und siehe: der Versuch der Institutionalisierung gelang. Schon bei den beiden bisherigen Preisträgern, Agnes Heller und Ferenc Feher, war es nicht schwer gewesen, die Verbindungslinie zu Hannah Arendt zu ziehen. Sie standen mit ihrem Lebenswerk für eine Linke ein, die vom Trümmerschutt ihrer Illusionen nicht begraben, nicht zynisch oder resignativ geworden war.

So unverhofft lustvoll sich die diesjährige Preisverleihung gestaltete, so zäh, so teils verworren ging es bei dem Seminar zu, das anläßlich der Ehrung zum Thema „Schuld, Verantwortung und die Würde der Nation“ in der „Plantage 13“ stattfand. Christina von Braun sprach über die christlichen Wurzeln des „Behagens in der Schuld“. Eine weit ausholende, scharfsinnige Analyse, die allerdings das Schicksal aller solcher hermeneutischer Versuchte teilt: Die Relevanz der herangezogenen Texte für das gegenwärtige Schuldempfinden in unserer Gesellschaft bleibt unbewiesen. Der Münchner Althistoriker Christian Meier entwarf ein Panorama des Verhältnisses zur Vergangenheit in den beiden Deutschland. Er plädierte für respektable Bescheidenheit und eine umfassende, dialektische, Nacht und Lichtseiten verschränkende Beurteilung der deutschen Geschichte. Für die „Würde der Nation“ im Sinn eines demokratischen Republikanismus, also im Sinne Hannah Arendts, war daraus wenig zu destillieren.