■ Algerien: Die Madonna der Vorstädte
Das schlecht gedruckte Foto einer Frau mit langen Haaren, das die hellgelben Wahlplakate zierte, glich dem Gemälde einer Madonna. Das Gesicht, das überall von den Mauern schaute, gehört Louisa Hanoune, der Vorsitzenden der Arbeiterpartei Algeriens. Wo sie auch auftrat, füllte die redegewandte Trotzkistin die Säle in ihrer vom Bürgerkrieg zerrissenen nordafrikanischen Heimat. „Friede, Brot, Land und Freiheit“ hieß die Parole, mit der sie an die Gedanken anknüpfte, die einst die Menschen für den Unabhängigkeitskampf gegen Frankreich begeisterte.
Jetzt sitzt Louisa Hanoune im algerischen Parlament. Warum das so ist, darüber gibt ein 300seitiges Gesprächsprotokoll, das die algerische Journalistin Ghania Mouffok mit der einzigen weiblichen Parteivorsitzenden Algeriens geführt hat, Auskunft. Die offenen Antworten zeigen Ursachen des blutigen Konflikts auf, der mittlerweile über 120.000 Menschen das Leben gekostet hat. Woher Louisa Hanoune die Ausdauer nimmt, immer weiter zu machen, das erklärt sie anhand ihrer eigenen, ganz persönlichen Geschichte. Als eine der ersten Aktivistinnen gegen die noch vom Einparteiensystem vorangetriebene Islamisierung des Familienrechts kam sie 1983 ins Gefängnis. Das Regime hatte beschlossen, mit jeglicher Opposition aufzuräumen. Ob der spätere Gründer der Islamischen Heilsfront (FIS), Abassi Madani, der Menschenrechtsanwalt Abdenour Ali Yahia, Feministinnen und radikale Linke, alle wurden in jener Dezembernacht abgeführt. Statt Ruhe ernteten die Bürokraten in Algier internationalen Sturm und mußte schließlich alle wieder freilassen. 1988 brach das Regime endgültig zusammen.
Revolutionsmythen, mit denen sich das korrupte Einparteiensystem die ganzen Jahre legitimiert hatte, platzen über Nacht wie Seifenblasen. Nur die politische Öffnung konnte Schlimmeres verhindern. Die FIS eroberte den Freiraum und gewann 1991 die ersten freien Wahlen. Das Militär schritt erneut ein. Der tragische Konflikt, der seither Algerien bestimmt, nahm seinen Gang. Der Herbst 1988 mit seinen Toten und Gefolterten prägte Hanounes Sinn für Gerechtigkeit und Menschlichkeit mehr als alles andere. Hanoune greift Menschenrechtsverletzungen und Gewalt an, egal, von wem sie ausgehen.
Das Buch ist ein ganz persönliches – und doch komplettes – Panorama der 35jährigen Geschichte des unabhängigen Algeriens und gleichzeitig ein leidenschaftliches Plädoyer für den Frieden, das Lösungen für die tragische Krise vorstellbar werden läßt. Reiner Wandler
„Terroristen fallen nicht vom Himmel. Louisa Hanoune im Gespräch mit Ghania Mouffok“. Rotpunktverlag Zürich, 1997, 38 Mark, 317 Seiten
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