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Durchzug in Mexikos Mega-Metropole

Am Freitag tritt Cuauhtémoc Cárdenas sein Amt an – der erste frei gewählte Bürgermeister von Mexiko-Stadt. Die Bürokraten fürchten ihn, die Menschen in den Armensiedlungen hoffen auf radikalen Wechsel  ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid

Ressourcen aller Art sind seit jeher knapp in San Miguel Teotongo, einer kleinen selbstverwalteten Gemeinde im wildwuchernden Osten der Riesenstadt. Gelder, Wasser, Asphalt – und Verhütungsmittel. Sogar eine Warteliste für Pillen und Gummis habe es gegeben, berichtet Felicitas, die Leiterin des kommunitären Gesundheitszentrums. Woche für Woche mußte sie in der Bezirksverwaltung von Iztapalapa, der größten und ärmsten der Stadt, um die Antikonzeptiva betteln gehen. „Ich werde sehen, ob ich dir ein paar Dutzend besorgen kann“, hatte ihr beim letzten Mal der zuständige Funktionär nach längerem Bitten versprochen, gerade so, als ob er ihr einen höchstpersönlichen Gefallen täte. Ausgehändigt wurden ihr schließlich ganze acht Gummikappen.

Bei ihrer jüngsten Visite aber, kurz nach den Wahlen vom 6. Juli, war sie in der Verwaltung auf gesenkte Häupter getroffen. „Hören Sie“, hatten ihr die Angestellten zugeraunt, „ob wir jetzt wohl alle rausgeschmissen werden?“ Felicitas grinst, wenn sie sich daran erinnert. „Gute Funktionäre werden niemals entlassen“, habe sie den besorgten Bürokraten scheinheilig versichert, „und die ineffizienten schmeißen sich ja quasi selber raus.“

Darauf wird derzeit allerorten gehofft in der mexikanischen Riesenmetropole, die im Juli zum ersten Mal einen eigenen Bürgermeister wählen durfte und sich dabei prompt für den Kandidaten der linken Opposition, Cuauhtémoc Cárdenas, entschieden hatte. Auch wenn „el Ingeniero“ seither immer wieder betont, daß er keinesfalls die gesamte Stadtverwaltung für korrumpiert halte, so werden doch an die fünftausend leitende Funktionäre, darunter auch die Bürgermeister der 16 Verwaltungsbezirke, ausgewechselt werden – ein Novum in der Geschichte der Stadt, die bislang als politisches Herzstück der seit 70 Jahren bürokratisch institutionalisierten Revolution gilt.

In kaum einem anderen Bezirk wird die Misere der „unmöglichen Stadt“, wie mexikanische Dichter und Intellektuelle sie zu nennen pflegen, so anschaulich vor Augen geführt wie in Iztapalapa. Je weiter man vom idyllischen Süden oder dem altehrwürdigen Zentrum der Stadt gen Osten fährt, desto desolater wird der Anblick. Vereinzeltes Gebüsch steht zwischen den schlampig asphaltierten Straßen herum, hier und da ein Rasenfleck, auf dem ein paar Kinder Fußball spielen. Werkstätten, Fabriken und Lagerräume wechseln sich ab mit lose zusammengewürfelten Häuseransammlungen, die einzige Linie im zerfaserten Grau scheinen die Strommasten zu sein, die überall hoch aus der hügeligen Stadtlandschaft ragen. Fauliger Geruch hängt in der Luft.

Im kleinen Busbahnhof von San Miguel Teotongo, am östlichen Rand von Iztapalapa, wenige Meter von der Autobahn, gackern ein paar Hühner zwischen den Holzbaracken. Auf dem Plätzchen in der Mitte des Halbrunds ist ein riesiges Porträt des Revolutionsführers Emiliano Zapata an die Wand gepinselt. Hier wurde am Tag nach den Wahlen erst mal ausgiebig gefeiert. „Wir haben schließlich ganz Iztapalapa gewonnen“, grinst Rosa Reyes, die stämmige Präsidentin der „Colonia“, und lacht ihr breitestes Lachen.

Alle vier Bundesabgeordneten sowie die sieben Vertreter für die Stadtversammlung werden künftig von der linken PRD gestellt, allein in der Sierra de Santa Catarina – dem Wahlbezirk, in dem auch San Miguel Teotongo liegt – bekam die Linkspartei fast doppelt so viele Stimmen wie die Staatspartei PRI.

Überraschend kommt das nicht. Daß San Miguel Teotongo sich heute zu einer Art Modellsiedlung gemausert hat, ist der Zähigkeit und dem Einfallsreichtum seiner BewohnerInnen zu verdanken. „Früher gab es hier nur Felder“, erinnert sich Rosa Reyes. Vor rund zwanzig Jahren war sie wie viele andere Familien auf der Suche nach einem Platz zum Leben in das unerschlossene Ödland am Stadtrand gezogen. Korrupte Funktionäre hatten damals die Grundstücke, die als ejido-Boden, also Gemeinschaftseigentum, eigentlich unverkäuflich waren, an landsuchende Siedler zu einem Spottpreis verkauft.

Das war auch hier der Auftakt zu dem jahrzehntelangen und teilweise bis heute nicht geklärten Rechtsstreit um die sogenannten illegalen Siedlungen am Stadtrand. Viele dieser „irregulären Vorstädte“ gerieten von Anfang an unter die Kontrolle der PRI-nahen Volksorganisationen, andere wurden von unabhängigen Gruppen wie der „Unión de Colonos“, der Siedlervereinigung, besetzt.

Den entscheidenden Anschub für die Selbstorganisation, und auch für die Politisierung der Rosa Reyes, brachte damals die Wasserfrage. Die Tatsache, daß für die ohnehin knappen Wasserlieferungen regelmäßig doppelt soviel abkassiert wurde, wie auf der Rechnung stand, empörte die junge Migrantin derart, daß sie sich der Unión de Colonos anschloß – wie inzwischen 70 Prozent der BewohnerInnen.

In zwei Jahrzehnten haben die Colonos allerhand auf die Beine gestellt. Sei es das Gemeindemuseum, das „echt prähispanische“ Fundstücke aus der Umgebung beherbergt, sei es das halbe Dutzend Volksküchen, wo die Kinder jeden Morgen für einen Peso – umgerechnet etwa 22 Pfennig – frühstücken können. Oder die drei selbstverwalteten Gesundheitszentren, in denen Akupunktur und Massage, Impfungen und – soweit eben möglich – Familienplanung angeboten werden. Dazukommen sollen noch Psychotherapie und Zahnmedizin, erklärt Schwester Felicitas und rührt ein Shampoo nach alten aztekischen Rezepten an. „In der Stadt verlieren ja viele – sprichwörtlich – ihre Wurzeln“, sagt sie und zeigt den kleinen Heilkräutergarten, der vor dem kalkweißen Gebäude angelegt ist.

Der ganze Stolz der Unión aber ist der selbstangelegte Ökopark. Seit ein paar Jahren schon ist eine Gruppe junger Leute dabei, die unwirtlichen Hänge der Sierra ökologisch zu kultivieren. Anhand eines Miniaturmodells erläutert der zwanzigjährige Daniel das ehrgeizige Vorhaben: Ökoschule und Abenteuerplätze sind geplant, mit Hilfe in- und ausländischer regierungsunabhängiger Organisationen sollen Sonnenkollektoren, Kläranlagen und diverse Biotope installiert werden. Auf den frisch gepflasterten Spazierwegen, die sich den bewachsenen Hang herunter schlängeln und in kreisrunden Aussichtsplattformen münden, läßt sich einiges davon schon erahnen.

Kleine Haken lauern freilich überall: So hatten randalierende PRI-Kids erst kürzlich die Kabel für die funkelnagelneuen Laternen entwendet. Und die Wachpolizisten, für die man auf dem Gelände eigens ein kleines Steinhäuschen errichtet hatte, ergriffen schon nach wenigen Tagen die Flucht. „Die kamen mit dem Plumpsklo nicht klar“, lacht Daniel.

Seine Erwartungen an den neuen Bürgermeister: endlich „politische Unterstützung für unsere Projekte – ohne daß wir deshalb gleich PRD-Mitglieder werden müssen.“ Rosa Reyes ergänzt: „Stell dir mal vor – wenn wir das alles bisher gegen den Strom machen konnten“, sagt sie und schnuppert am selbstangerührten Shampoo von Felicitas, „was ist dann erst alles unter einer demokratischen Regierung möglich?“

Bei seinem jüngsten Besuch hatte sie Cárdenas eine Liste handfester Forderungen in die Hand gedrückt. Ausrüstung für das Gemeindekrankenhaus, die Reparatur der löchrigen Straßen, die Regulierung der Wasserzufuhr und vernünftige Abflüsse, die Einrichtung von „Bürgerkomitees“ zur Überwachung der „oftmals kriminellen Polizei“ – und der Bau eines Gymnasiums auf dem Gelände eines ehemaligen Frauenknastes an der Autobahn.

In der Sierra von Santa Catarina gibt es keine gymnasiale Oberstufe. In einem selbstorganisierten Plebiszit hatten sich 95 Prozent der Befragten für die Schule ausgesprochen. Dennoch war der Bezirksbürgermeister letztes Jahr auf die Idee verfallen, das seit 15 Jahren leerstehende Frauengefängnis nun dringend renovieren und als Hochsicherheitsgefängnis wieder in Betrieb nehmen zu müssen. Unterschriftenlisten und Menschenketten hatten nicht gefruchtet. Jetzt haben die Unión und andere Gruppen kurzerhand zu einer Platzbesetzung aufgerufen, um den Bürgermeister, dessen Tage im Amt ohnehin gezählt sind, zur Einsicht zu bewegen.

Am Zaun zur Baustelle sind zwischen Pfützen und Geröll ein paar orangefarbene Planen gegen die Mittagssonne aufgespannt, die Arbeiter haben längst ihre Werkzeuge abgeholt. Die Blockierer sitzen müde und entspannt im Schatten, lesen Zeitung und spielen Domino vor den verwaisten Betonmischern. Auf einem der Plastikhocker sitzt mittendrin eine junge Frau mit Strohhut und langen Lederstiefeln. In Kürze wird die 33jährige auch auf den eleganten Ledersitzen im Parlamentsgebäude Platz nehmen. Denn Clara Brugada ist eine von vier linken Bundesabgeordneten, die demnächst für Iztapalapa parlamentarische Politik machen werden.

Die „Kunst des anderen Regierens“ besteht für sie daran, die Leute darüber entscheiden zu lassen, wie die knappen Ressourcen verteilt werden. Und sie hofft, „daß wir in der PRD mit der Macht nicht unseren demokratischen Anspruch runterschrauben“. Die PRI, sagt sie mit blitzenden Augen und beißt in ihren Taco, habe sich ja nie um das Vertrauen der Menschen bemühen müssen. „Uns aber bleibt gar nichts anderes übrig.“

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