: Noch hält hier kein Reisebus
Stars und Sternchen, Kleinkunst und Kulturschick: Die Bar jeder Vernunft, ein Zustandsbericht, eine Rückschau ■ Von Axel Schock
Der Ort ist ein Juwel. Eine Stätte, die soviel Charme und Atmosphäre verströmt, daß man am liebsten schon vor Beginn des Programms applaudiert hätte, als man zum ersten Mal hier saß. Das war im Juni 1992. Auf dem Parkdeck der Freien Volksbühne hatten Lutz Deisinger und Holger Klotzbach (von den Drei Tornados) ein altes Spiegelzelt installiert und es Bar jeder Vernunft genannt. Bei dem Versuch, das Quartier in der Potsdamer Straße als innovatives Varieté zu etablieren, hatten die beiden gerade eine Pleite erlitten. Egal: Sie planten den Brückenschlag von den 20er Jahren ins Jetzt – per Kleinkunst.
Die Sympathien waren groß, die Finanzen desaströs. Aber bar jeder Vernunft hielten die Fans der ersten Stunde an diesem Ort fest. Bis zum Morgengrauen saß man manchmal in den längst legendären Nachtsalons, wo sich die Londoner Magierin Fay Presto von Tisch zu Tisch bewegte, sich Meret Becker als Chansonette oder Henry de Winter als Dandy versuchten. Schaubühnen-Stars verbanden sich mit Kleinkunst-Nachwuchs sowie Kulturschickeria, und zwar problemlos.
Drängelei vor der Vorstellung
Heute steht die Bar jeder Vernunft finanziell gut da. Aus den fünf Beschäftigten sind annäherend 60 geworden, das Spiegelzelt gilt als eine der besten Adressen in der deutschen Kleinkunstszene und gehört zu den kulturellen Topadressen Berlins. Was bedeutet, daß der Besucher von heute selbst an der Tageskasse des Spiegelzeltes Vorverkaufsgebühren entrichtet, sich, weil es außer „Champagnerlogen“ keine Platzreservierungen gibt, bereits um 19 Uhr hineindrängelt und bis zum Vorstellungsbeginn die Zeche in die Höhe treibt. Eng stehen die unbequemen Holzklappstühle, und darauf sitzen (an schlechten Tagen) Wilmersdorfer Witwen und Düsseldorfer Geschäftsleute, kippen noch vor Vorstellungsbeginn den zweiten Wein, das dritte Bier in sich hinein und scharren mit den Füßen.
Da muß manche/r KünstlerIn schwere Arbeit leisten, bis er/sie das Publikum in den Griff bekommt, zumal, wenn nicht Comedy, sondern Chansons geboten werden. Da kann einer Cora Frost auch schon mal ein Bierglas in Richtung der desinteressiert quatschenden Vertreterecke ausrutschen. Der treue Fan des Ortes beobachtet derlei mit Trauer und fragt sich, ob Erfolg unweigerlich mit Verlust von Atmosphäre verbunden ist. Denn verändert hat sich diese auch hinter den Kulissen. Einigen ist das nicht verborgen geblieben, sie gehen nicht mehr hin.
„Das Betriebsklima war immer recht anstrengend und patriarchalisch“, erzählt Volker Ludewig, einst fürs Kartenbüro zuständig und jetzt Marketing-Manager von Georgette Dee und Terry Trucks Plattenlabel Viellieb-Records. „Aber ich konnte abends ins Zelt gehen und allen Streß vergessen.“ Doch mit der größeren Professionalität sei auch die Stimmung im Hause den Bach heruntergegangen. Holger Klotzbach nimmt solche Kritik gelassen zur Kenntnis: „Wir haben als Freak-Betrieb angefangen. Lutz und ich waren Programmgestalter, Presseagent, Hausmeister, Abendspielleiter und Geschäftsführer in einem. Jeden Tag 18 Stunden auf Achse. So was macht man zwei Jahre mit, dann kann man nicht mehr. Wenn man einen solchen Betrieb aufbauen will, muß man klare Strukturen einführen.“
Auch sei ein solcher Apparat mit den Abendeinnahmen allein längst nicht mehr zu finanzieren. „Wir können nicht die Atmosphäre des Stammpublikums bewahren und dabei zugrunde gehen“, verteidigt Klotzbach die Firmenpolitik und verweist auf das Schicksal des Hamburger Schmidt- Theaters. Das hätte vor wenigen Wochen Konkurs anmelden müssen, wäre nicht der dortige Senat mit einer einmaligen Subvention von 600.000 Mark eingesprungen.
Auch Klotzbach bleibt nichts weiter übrig, als sich ständig nach neuen Geldquellen umzusehen. Feste Sponsorenverträge gibt es bereits, die hauseigene Künstleragentur soll ausgebaut werden, es gibt Ideen für einen Catering-Service und für die Organisation von Fremdveranstaltungen. Die Platzausnutzung ist ausgereizt, die Preisgestaltung auch. Georgette Dee besteht auf sozialen Eintrittspreisen von höchstens 30 Mark, für kostenintensive Eigenproduktionen wie „Die drei alten Schachteln“ mit Brigitte Mira, Evelyn Künnecke und Helen Vita jedoch muß man am Wochenende schon mal 50 Mark hinlegen.
Die Freunde gönnen Klotzbach den Erfolg
Dieser ständige Spagat ermüde, sagt Klotzbach: Die Professionalisierung und Kommerzialisierung soweit voranzutreiben, daß das Haus finanziell gesichert bleibt, und dabei das Außergewöhnliche nicht zunichte zu machen. Anders als im nicht minder erfolgreichen Chamäleon halten am Spiegelzelt noch keine Reisebusse. „Wir haben uns bewußt von allen Marketing-Maßnahmen für den Massentourismus ferngehalten. Natürlich freuen wir uns, wenn ein Hotelportier seinen Gästen unser Haus für einen netten Abend empfiehlt. Das brauchen wir auch, weil das Berliner Publikum allein nicht immer reicht.“
Klotzbachs Weggefährten und Freunde aus altlinken Tagen gönnen ihm den Erfolg. „Es ist heute ja nicht mehr modern, dies jemandem vorzuwerfen“, sagt er. Die Entwicklung vom linksradikalen Kabarettisten zum Besitzer eines expandieren mittelständischen Unternehmens ist für Holger Klotzbach kein Verrat der alten Ideale. „Meine Form des Sozialismus sind Weihnachtsgeld und Gratifikationen.“ Die Aura der Bar jeder Vernunft ist zum großen Teil Erinnerung. Aber so gleich wie die anderen ist dieser Ort nun auch noch nicht. Er bleibt ein Juwel – auch wenn es nicht mehr ganz so glänzt.
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