: Schuld ist nicht nur der Ersatzball
Wirklich wichtige Fragen sind einzuwerfen, nachdem ein unbekannter Waldhof-Freund das DFB-Pokal-Achtelfinale zuungunsten von Alemannia Aachen entscheidet ■ Von Bernd Müllender
Tivoli (taz) – Ja, in Aachen ist Fußball wirklich noch Fußball. Kein neumodisches Yuppie-Getue, kein aufgebauschtes Surrogat. In der größten deutschen Stadt ohne jeden Bundesligasport ist Fußball noch Proletensport, jenseits aller Zumuntungen der grassierenden Fernsehfußballinszenierung. Bei der Alemannia wähnt man sich im Gestern: überall Figuren wie aus einem 60er-Jahre-Film, Scharen von Arbeitern, sauffreudige und sangesfrohe Schnauzbartansammlungen. Alles wirkt so ältlich. Auch der Präsident will „Volksfestcharakter, nicht Entertainment“. Hallo, Gestern!
In der dritten Liga gurken die Alemannen herum, die unvermeidlich Unentwegten träumen von seligen Zweitligazeiten (bis 1991), in denen man von seligen Erstligazeiten träumte (bis 1970). Auch dieses Jahr reicht es nur zu grausligem Mittelmaß (Platz 8 derzeit). Aber wehe, es ist Pokal- Time. Dann ist es „wie früher“, die höchste Euphoriekategorie im Aachen-Fußball. Dann kommen Minimum 15.000 Verrückte, wie zuvor bei den Erfolgen gegen die Zweitligisten Leipzig und Nürnberg.
Schon die antike Arena ist wie eine Zeitreise in die Fußballkultur des Vorgestern: Der Name „Tivoli Stadion“ steht handgemalt auf den Kassenhäuschen, auf der Sitztribüne biegen sich die morschen Holzbänke, die Lautsprecher krächzen, die Zäune rotten, und reichlich Taubenkot ziert das windschiefe Tribünenblech. Am Mittwoch, im Drittligaduell mit Waldhof Mannheim, waren sogar 20.000 gekommen. Da verbreiten die Massen überaus gänsehautwürdig mit Stakkatoklatschen schweren Schrecken in einem Kessel, in dem, wie einer mal schrieb, sogar Hexen Angst hätten.
Doch Fußball ist der Sport des Konjunktivs: hätte, würde, wäre. Was hätte man mit aller gebotenen Ironie weiterschwelgen können, was wäre das für eine Überschrift geworden, wenn Aachens Scheinhardt diesen Elfmeter versenkt hätte: „Das war der Scheinhardt!“ Oder man hätte kontrovers über den Unfug (oder Segen) debattieren können, daß zwei Drittligisten überhaupt gegeneinander spielen dürfen und wer dabei nach den heiligen Pokalgesetzen favorisierter Außenseiter und wer Innenseiter ist.
Man hätte sich auch mit der auf tiefem Schneematschboden spielerisch beeindruckenden Mannheimschaft befassen können, deren Trainer Uwe Rapolder mit berechtigtem Stolz sagte: „Spielerisch haben wir eine relativ feine Klinge gespielt.“
Alles kein Thema.
Thema war nur der Ball. Der, der da nicht hingehörte. Der zweite Ball. Der, der alles entschied. „Aachen scheitert an Waldhof-Fans“ überschriftete gestern die Heimatzeitung tief empört. Genauer wäre gewesen: Einer von vielleicht 300 Aufrechten entschied diesen seltsamen Ball paradox.
Aber wirklich entscheidend formuliert: Ausgerechnet die Alemannia scheiterte an den Zumutungen der Moderne. An der Unkultur des TV-Fußballs. Am Mittwoch abend kam es zum Clash der Fußballzeitläufte. Wir blenden also zurück in die Verlängerung: 99. Minute, Spielstand 1:1, Foulelfmeter für die Alemannen. Mario Krohm schießt, Waldhof-Keeper Straub wehrt ab. Genau in diesem Moment landet ein zweiter orangefarbener Ball, geworfen aus dem Mannheim-Block, neben dem am Boden liegenden Torwart. Irritierend? Kaum. Krohm versenkt den Nachschuß.
Aber der reguläre Treffer ist irregulär. Zwei Bälle im Spiel – Schiedsrichter Markus Merk muß abpfeifen. Da ist die Regel kompromißlos. Merk später: „Ich konnte nicht anders.“ Tja, Fußball ist beliebt, weil so einfach.
Aber ist er so einfach, weil ungerecht? Die fußballtypische Folge jedenfalls: wilde Tumulte auf den Rängen. Ein Kollektivlynchen der Mannheimer Fans droht, Polizei marschiert auf. Prügeleien. Willkürliche Festnahmen. Merk nimmt Reißaus und mit allen Beteiligten fünf Minuten Auszeit in den Kabinen. Es folgt ein Schiedsrichterball auf der Torraumlinie. Es bleibt beim 1:1. Elfmeterschießen. Mannheim siegt, weil Mario Krohm noch mal verschießen darf.
Alemannia-Trainer Werner Fuchs sagt: „Es ist tragisch, daß sich der Ballwerfer sicher jetzt noch kaputtlacht.“ Und: „So einem müssen die Finger wegfaulen.“ Fans entscheiden ein Fußballspiel ganz unmittelbar. Aber sie hatten prominente Helfer. Denn der falsch eingeworfene Ball war der Spielball der ersten Halbzeit, den die Mannheimer zwischenzeitlich nicht wieder rausgerückt hatten. Früher hätte man gewartet und ihn sich geholt. Seit dieser Saison gilt Verzögerung als Gefahr für Leib und Einschaltquote; weshalb an allen Spielfeldseiten zwecks atemloser pausenfreier Inszenierung sofort einwechselbereite Ersatzbälle liegen müssen.
Wirklich wichtige Fragen bleiben: Wird das Schule machen? Werden demnächst zahllose Scheinschwangere die Ränge bevölkern? Reicht schon ein Golfball zur Ergebniskorrektur oder ein Feuerzeug mit Ballaufdruck? Ein kaum rundes Rugbyei gleicher Größe? Und: Wann wird der Unfug der Ersatzbälle wieder beendet? Mario Krohm hat schon angekündigt: „Demnächst nehme ich zu Auswärtsspielen Bälle mit und lasse sie dann reinwerfen...“
Sehr clever. Wobei die ganze Aufregung unnötig wäre, wenn Krohm nur einen seiner beiden Elfer reingeschossen hätte. Fußball ist halt doch ganz simpel. Oder die 20.000 hätten nur nach dem üblichen Alemannia-Schützen gebrüllt: Wo ist der Scheinhardt?
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