: 127mal Tschernobyl
Erste unabhängige Bilanz der berüchtigten russischen Atomanlage Majak im Ural: noch schlimmer als befürchtet ■ Von Reinhard Wolff
Oslo (taz) – Als erste ausländische Experten durften Forscher der norwegischen Strahlenschutzbehörde eingehende Messungen der Radioaktivität rund um Rußlands Plutoniumfabrik Majak vornehmen. Wiederaufarbeitungsanlagen und Reaktoren liegen bei einer geheimen Stadt im Bezirk Tscheljabinsk im südlichen Ural. Resultat von 400 Erd- und Wasserproben der Norweger: Was von Majak (auf deutsch: Leuchtturm) in den letzten fünfzig Jahren an radioaktiver Verunreinigung an die Umwelt abgegeben wurde, entspricht in Becquerel gemessen 127 Tschernobyl-Katastrophen.
Auch wenn der größte Teil dieser Radioaktivität in den ersten Betriebsjahren der 1948 gebauten Anlage freigesetzt wurde und daher zumindest zum Teil nunmehr verschwunden ist, ist die Menge radioaktiven Materials, die dort noch lagert, immens. Nach Einschätzung von Per Strand von der norwegischen Strahlenschutzbehörde besteht eine erhebliche zukünftige Katastropengefahr: „Vor allem groß ist das Risiko, daß durch Überschwemmungen oder einen Dammbruch im Wasser gelagerte Radioaktivität sich unkontrollierbar ausbreitet.“
Was sich bereits nach Abschluß der ersten Etappe dieser Messungen herausstellte, war, daß die bisherigen russischen Messungen sich als wesentlich zu niedrig erwiesen. Der jetzt bilanzierte Strahlenaustritt bei Majak, gemessen in PBq (einer Billiarde Becquerel) im Vergleich zu anderen großen radioaktiven Quellen: Majak 8.900 PBq, gesamte atomare Tests weltweit 1.550 PBq, Tschernobyl 70 PBq, die WAA im britischen Sellafield 47 PBq. „Das Gros des radioaktiven Austritts“, so Per Strand, „geschah in Wasser, was zunächst weniger direkt gesundheitsgefährdend für Menschen ist, als eine Freisetzung in die Luft.“
Der See Karatschai, der seit 1951 als Atommüllager diente, ist die weltweit größte konzentrierte Strahlenbombe mit nicht weniger als 4.400 PBq. Per Strand: „Der See ist so radioaktiv, daß man eine tödliche Dosis abbekommt, wenn man sich ihm nur nähert. Die Russen fahren mit bleigepanzerten LKW dort hin und versenken zur Zeit riesige Betonelemente in den See. Es ist geplant, ihn später mit einer Betonkuppel zu überbauen.“ Die Gefahr bestehe nämlich, daß der Karatschai auszutrocknen beginne wie schon einmal 1967, als sich radioaktiver Sand aus dem See über eine weite Fläche mit dem Wind verstreute.
Eine weitere massive Freisetzung von Radioaktivität (740 PBq) war 1957 mit der Explosion eines Strahlenmüllagers geschehen, bei dem ein Gebiet von über 100 Kilometern Länge und 10 Kilometern Breite verseucht wurde. Mehr als 200.000 Menschen waren darüber hinaus in den Jahren 1949–1956 radioaktiver Strahlung ausgesetzt worden, als man noch den gesamten flüssigen radiaoaktiven Abfall der Anlage in den Fluß Tetscha leitete. Nach Schätzung der norwegischen Umweltschutzorganisation Bellona sind über 4.000 ArbeiterInnen von Majak aufgrund von Strahlenschäden gestorben.
Noch ganz ungeklärt ist bislang die bisherige und in Zukunft drohende Gefahr für das Grundwasser und davon ausgehend für die Menschen in diesem Gebiet. Dieser Frage wollen die norwegischen Experten in einer zweiten Etappe ihrer Forschungszusammenarbeit mit Moskau im kommenden Jahr nachgehen.
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