„Die depressiven Stimmungen nehmen zu“

■ Der Arzt Johannes Spatz aus Berlin-Hohenschönhausen über das Gesundheitsrisiko Arbeitslosigkeit

taz: Im Ostberliner Bezirk Hohenschönhausen haben Experten gemeinsam mit Betroffenen 50 Ärzte und 400 Arbeitslose nach den Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Gesundheit befragt. Wie sind Ihre Ergebnisse?

Johannes Spatz: Bei über 60 Prozent der Arbeitslosen gibt es eine eindeutige Zunahme von depressiven Stimmungslagen. Die psychische Situation wird durch die Arbeitslosigkeit sehr labil und schwierig. Aber auch die organischen Beschwerden nehmen zu: Jeder dritte hat gehäuft Magen- Darm-Krankheiten, jeder vierte Herz-Kreislauf-Beschwerden bis hin zu Herzstechen, jeder sechste berichtet von einer Zunahme von Suizid-Gedanken. Daß Arbeitslosigkeit krank macht, wurde uns ganz plastisch berichtet.

Hatte diese Umfrage praktische Konsequenzen in Ihrem Bezirk?

Ja. Eine Psychologin des Sozialpsychiatrischen Dienstes des Gesundheitsamtes leitet inzwischen eine Gruppe im Arbeitslosenzentrum an. Die Nachfrage nach einer Gruppe war dort so groß, daß diese eine nicht ausgereicht hat. Inzwischen gibt es eine zweite. Außerdem bietet in Hohenschönhausen ein niedergelassener Zahnarzt in einem Obdachlosenheim Sprechstunden an. Ich glaube, das ist bundesweit einmalig. Zukünftig soll sich auch ein ABM-Projekt um Suchtverhalten in dieser Unterkunft kümmern.

Was muß sich über solche Projekte hinaus ändern?

Zum einen müssen Politiker und andere Entscheidungsträger wahrnehmen, daß Arbeitslosigkeit krank macht. Daß Menschen, die arbeitslos sind, schneller sterben als andere. Das ist keine Lappalie. Zum anderen müssen die Leute, die das eigentlich schon wissen, also die Mitarbeiter in den Gesundheitsämtern, ihr Amt und ihre Arbeit umstrukturieren. Sie müssen den Schwerpunkt auf die sozialen Brennpunkte legen.

Was heißt das?

Bisher bieten sie ein Gesundheitsförderungsprogramm an, das die ganze Bevölkerung erfassen soll. Angenommen wird es häufig aber nur von denjenigen, denen es sowieso gutgeht. Im Gesundheitsamt dürfen sie nicht darauf warten, daß jemand kommt. Sie müssen zu den Betroffenen hingehen. Sie sollten mit Ärzten, dem Arbeitsamt, dem Arbeitslosenzentrum und den Betroffenen zusammenarbeiten. Nur wenn sie das machen, werden sie auch akzeptiert. Interview: Sabine am Orde