Präsident Clinton empfängt Dissident Wei

Chinas Regierung ist verärgert über den Besuch Wei Jingshengs bei Präsident Clinton – dabei zeigt das Treffen, daß der Eiertanz der US-Regierung zwischen Menschenrechts- und Handelspolitik weitergeht  ■ Aus Washington Peter Tautfest

Präsident Bill Clinton hätte Wei Jingsheng auch Dienstag abend beim Empfang in New York anläßlich des 50. Jahrestages der Menschenrechtskonvention empfangen können, das hätte die chinesischen Führung vielleicht weniger erzürnt als der Empfang am Montag im Weißen Haus, wo vor Wochen erst Jiang Zemin von Clinton empfangen wurde.

Clinton zog es vor, den aus Gesundheitsgründen aus chinesischer Haft entlassenen Dissidenten ins Weiße Haus einzuladen, ließ aber verlauten, daß die Begegnung nicht im hochoffiziellen ovalen Arbeitszimmer des Präsidenten, sondern in einem kleinen Zimmer im Westflügel stattfand.

Es gab keinen anschließenden Fototermin, und die Presse war auch nicht geladen. Clinton wolle die Freilassung weiterer Dissidenten nicht gefährden, verlautete später. Das ist die Fortsetzung des Eiertanzes zwischen Menschenrechts- und Handelspolitik, die derzeit die chinesisch-US-amerikanischen Beziehungen kennzeichnet. Die chinesische Regierung reagierte dennoch verärgert. Die Begegnung sei ein schwerer Fehler der USA, erklärte das chinesische Außenministerium gestern.

Wei Jingsheng berichtete später vor der Presse, er habe Clinton gewarnt, „nicht zu zahlen, bevor die Ware geliefert sei“, womit er meinte, der Präsident solle sich von der chinesischen Führung nicht in die Irre führen lassen. „Anders als im Westen, wo man sich an Absprachen und Gesetze hält, gilt in China weder das eine noch das andere“, erklärte Wei auf die Frage, wovor er den Präsidenten gewarnt hatte. Er selber könne ein Lied davon singen, daß die chinesische Regierung sich heute schon nicht mehr an das hält, was sie gestern versprochen hat.

„Das ist wie ein Sport zwischen Mannschaften, deren eine sich an die Regeln hält, die andere aber nicht.“ Er habe aber nicht den Eindruck, daß der Präsident jemand sei, der sich leicht täuschen ließe.

Wei Jingsheng wurde nach dem Staatsbesuch Jiang Zemins in den USA aus gesundheitlichen Gründen entlassen und kam am 16. November in den Vereinigten Staaten an. Auf allen Stationen seines Besuchs war Jiang von Demonstrationen begleitet und wiederholt auf die politischen Gefangenen angesprochen worden. Solche gebe es gar nicht, antwortete Jiang, nur gewöhnliche Verbrecher.

Wei Jingshengs Verbrechen war es, 1976 öffentlich von Deng Xiaoping gefordert zu haben, die vier Modernisierungen Chinas, die industrielle, landwirtschaftliche, technische und wissenschaftliche, um eine fünfte, um die demokratische, zu ergänzen. Dafür wurde er verhaftet und saß bis 1994 im Gefängnis. Sein zweites Verbrechen war dann, 1994 den US-amerikanischen Menschenrechtsbeauftragten John Shattuk in Peking empfangen zu haben.

Wei Jingsheng wurde zum Symbol der politischen Gewissensfrage: Sollten die USA Menschenrechtspolitik vor Handelspolitik setzen? Clinton hatte den Staatsbesuch Jiang Zemins damit gerechtfertigt, daß es für die Durchsetzung der Menschenrechte nützlicher sei, Chinas Führung in einen Dialog zu ziehen, als das Land zu isolieren. Die Freilassung Weis schien ihm recht zu geben.