: Samstags geht's gegen das „Papistenpack“
Im nordirischen Harryville müssen Katholiken unter Polizeischutz zur Messe gehen – die Protestanten protestieren, weil im Nachbarort ihre Parade verboten wurde. Die Ortschaften der Gegend sind längst segregiert ■ Aus Harryville Ralf Sotscheck
Es ist Samstag abend, Viertel vor sechs. Der erste Polizei- Jeep hat Position bezogen. Fünf Minuten später riegeln zehn weitere Polizeiwagen die katholische Kirche von Harryville ab. Wer zur Abendmesse will, wird kontrolliert.
Es ist eine moderne Kirche mit drei Spitzen, die wie Pyramiden in den dunklen Himmel ragen. In der Mitte, freistehend, der Glockenturm. Das Gotteshaus ist geräumig, auf den Holzbänken haben 800 Menschen Platz. Noch ist die Mutter-Gottes-Kirche leer, die Lichtstrahler an der Decke sind jedoch eingeschaltet. In den Schieferwänden unter den hohen Fenstern hat der Architekt hin und wieder rechteckige Löcher gelassen, die aussehen wie die Schießscharten einer Burg. Und wie eine Burg wird die Kirche von Harryville seit fünfzehn Monaten belagert.
Jeden Samstagabend versammeln sich protestantische Demonstranten auf der anderen Straßenseite hinter dem Polizeigürtel und versuchen die Messe zu stören. Nur an dem Tag, an dem Prinzessin Diana begraben wurde, haben sie ausgesetzt. Ihre Zahl schwankt zwischen 30 und 300 – es kommt aufs meteorologische und politische Klima an. Diesmal sind es rund 50 Menschen, die meisten Jugendliche. Ein Stadtrat der „Democratic Unionist Party“ (DUP) soll auch dabeisein.
Harryville gehört zu Ballymena, einer Kleinstadt mit 35.000 Einwohnern, und die ist das Reich von DUP-Gründer Ian Paisley. Ballymena ist die einzige Stadt Nordirlands, in der die DUP eine Ratsmehrheit hat. Seit vielen Jahren wird der fanatische Presbyterianerpfarrer Paisley, der zuerst seine eigene Kirche und dann seine eigene Partei gründete, in die Parlamente in London und Brüssel gewählt. Kein nordirischer Abgeordneter bekommt mehr Stimmen als er. Inzwischen ist er über 70, aber sein Haß auf den Katholizismus ist ungebrochen. Einmal hat man ihn aus dem Europaparlament geworfen, weil er den Papst, der dort eine Ansprache hielt, als Antichristen beschimpfte. Der Sohn, der auch Ian Paisley heißt, tritt in des Alten Fußstapfen. In seinen Reden nennt er Rom in einem Atemzug mit dem Wort Dämon. Schreiten ihre Anhänger jedoch zur Tat, wie in Harryville, mahnen die beiden Paisleys zu Mäßigung.
Um die Mutter-Gottes-Kirche ist ein zwei Meter hoher Metallzaun mit dreizackigen Spitzen gezogen. Der kleine Spielplatz mit dem hölzernen Klettergerüst nebenan ist ebenfalls umzäunt. Father O'Neill, der die Messe lesen wird, betritt die Kirche durch einen Seiteneingang. Als er sich der Tür nähert, geht draußen ein automatischer Sicherheitsscheinwerfer an.
Ein reicher katholischer Geschäftsmann hatte der Gemeinde 1968 das Land geschenkt, um eine Kirche zu errichten. „Viele Protestanten meinen, die Kirche hätte nie gebaut werden dürfen“, sagt O'Neill. „Doch damals lebten noch 400 katholische Familien in der Sozialbausiedlung gegenüber.“ Heute sind es noch 19, die übrigen sind vertrieben worden. „Erst vor drei Wochen mußten wieder zwei Familien flüchten, weil sie von ihren protestantischen Nachbarn bedroht und schikaniert wurden“, sagt O'Neill.
Der Pfarrer ist 30, er ist so alt wie der nordirische Konflikt. O'Neill hat kurze, schwarze Haare, die sich am Hinterkopf zu lichten beginnen. „Die Messe am Samstagabend ist immer am besten besucht“, sagt er, „denn sie zählt schon als Sonntagsmesse.“ Und die ist Pflicht für gute Katholiken. „Die meisten erledigen am Nachmittag ihre Einkäufe und kommen danach in die Kirche, bevor sie in den Pub oder ins Kino gehen.“
Die Mutter-Gottes-Kirche war samstags immer voll. Viele Familien, die in den Nordteil Ballymenas gezogen sind, gingen aus Gewohnheit weiter in Harryville zum Gottesdienst. Als die Attacken begannen, fiel die Zahl der Besucher von sechshundert auf sieben. „Anfangs nahm die Polizei die Demonstrationen nicht besonders ernst“, sagt O'Neill. Erst als die Kirchgänger aus ihren Autos gezogen und verprügelt wurden, erhöhte man das Aufgebot.
Inzwischen sind es wieder 300 bis 400 Leute, die sich in der Kirche versammeln. In seiner Predigt spricht der Pfarrer vom Atheismus, der sich gerade unter Teenagern immer mehr ausbreite. Doch unter den Kirchgängern sind viele junge Leute, die später nach vorn zum Altar zur Kommunion gehen. Zuvor weist O'Neill noch auf die Lotterie hin. Tausend Pfund kann man gewinnen, der Profit soll dem Bau einer neuen Gemeindehalle zugute kommen.
Nach einer Dreiviertelstunde ist die Messe vorbei, die Orgel, die am Haupteingang zu ebener Erde steht, ist nicht zum Einsatz gekommen. Die Abendmesse am Samstag wird im Schnelldurchgang abgehalten und ist wohl auch deshalb bei denjenigen so beliebt, die aus Pflichtbewußtsein zur Kirche gehen.
Als die Menschen aus dem Gotteshaus kommen, ertönen von gegenüber vereinzelte Pfiffe. „Sie trauen sich nicht“, sagt Pat, der Meßdiener. „Die Polizei hat ihnen mit Festnahme gedroht, falls sie sich nicht benehmen.“ Anfangs war das anders. Da wurden die Autos der Kirchenbesucher zerstört, der Haupteingang des Gotteshauses wurde mit Farbeiern beworfen. Die Reste weißer und roter Farbe, die um das Portal verschmiert sind, zeugen noch davon.
Die Polizei stoppt den Verkehr auf der Hauptstraße, damit sich der Parkplatz an der Kirche zügig leert. Die Protestanten skandieren: „Weg mit dem Papistenpack!“ Der Einsatzleiter der Polizei, Tom Crawford, warnt davor, ihnen zu nahe zu kommen: Sie mögen keine Journalisten.
„Harryville ist protestantisch“, ruft eine Frau herüber, „die Katholiken sollen von hier verschwinden. Uns läßt die Polizei ja auch nicht nach Dunloy, weil der Ort katholisch ist. Und hier macht sie den Papisten die Straße frei.“
Dunloy liegt zehn Meilen nordwestlich von Ballymena. Es ist ein trostloser 1.500-Seelen-Ort mit einem kleinen Laden, der Kneipe „Village Inn“ und zwei Kirchen. Die katholische liegt oben auf dem Hügel. Sie ist neu, kreisrund und sieht von weitem aus wie ein Krematorium.
Der Ort ist überwiegend katholisch. Das war er nicht immer, früher – bevor man in Nordirland aus gemischten Gebieten wegzuziehen begann – lebten hier fast ausschließlich Protestanten. Davon zeugt die zerfallene Presbyterianerkirche. Die kleine Oranier- Halle, besprüht mit IRA-Parolen, ist dagegen noch in Betrieb. Dorthin sollte im Sommer vorigen Jahres eine Parade des Oranier-Ordens gehen. Der streng antikatholische Orden organisiert jedes Jahr mehr als 3.000 Paraden in Nordirland, um Siege in vergangenen Schlachten zu feiern. Wo diese Märsche durch katholische Wohngebiete führen, gibt es Konflikte.
In Dunloy protestierten die katholischen Anwohner gegen die geplante Parade durch ihren Ort, und diesmal wurde sie verboten. Aus Rache wird seitdem die Kirche in Harryville belagert. „Wenn es nicht Dunloy gewesen wäre, hätten sie einen anderen Grund gefunden“, vermutet Joe Duffy, der nach dem Gottesdienst ins Village Inn gekommen ist. „Die Loyalisten und die Unionisten wollen keinen Kompromiß. Die Friedensgespräche sind eine Farce. Die einen nehmen nicht daran teil, die anderen schicken Nachwuchspolitiker, und die britische Regierung tut überhaupt nichts.“
Sinn Féin, so glaubt er, habe sich von Tony Blair einwickeln lassen. Der britische Premierminister hat den Sinn-Féin-Präsidenten Gerry Adams für Donnerstag in die Downing Street eingeladen. „Die Unionisten schäumen“, sagt Duffy, „aber was soll bei dem Besuch herauskommen? Es läuft alles auf eine interne nordirische Lösung hinaus, und das wird die Mehrheit der IRA nicht hinnehmen. Dann ist alles wieder beim alten, und die Unionisten können zufrieden sein.“
Der Bezirksrat der gemäßigten katholischen SDLP, Declan O'Loan aus Ballymena, ruft dagegen zum Verständnis für die Demonstranten von Harryville auf. „Sie stehen für etwas in der protestantischen Gemeinschaft, was wir nicht ignorieren dürfen. Es ist die Stimme einer Gemeinschaft, die sich mißverstanden und machtlos fühlt. Und deshalb klammern sie sich an diese verzweifelte Taktik, um zu zeigen, daß sie irgendwie zählen.“
O'Loan geht trotzdem fast jeden Samstag in die Mutter-Gottes-Kirche von Harryville, um seine Solidarität mit den Belagerten zu zeigen. Auf dem SDLP-Parteitag vor zwei Wochen rief er alle Parteien dazu auf, die Belagerung der Kirche zu verurteilen. Prompt waren am folgenden Samstag wieder 300 Demonstranten auf der Straße.
„Je weniger in der Lokalpresse darüber berichtet wird, desto besser“, sagt Pfarrer O'Neill deshalb. „Man muß ihnen den Sauerstoff der Öffentlichkeit entziehen.“ Dann lacht er: „Dieser Satz stammt von Margaret Thatcher. Ich hätte nie gedacht, daß ich sie einmal zu meinem Vorteil zitieren würde.“
Wie hält er es aus, daß er seit fünfzehn Monaten die Kirche heimlich betreten und sich nach der Messe schnell aus dem Staub machen muß? „Irgendwann werden sie die Lust verlieren“, hofft er. „Aber manchmal gibt es trotzdem noch amüsante Momente. Gestern zum Beispiel, ausgerechnet bei einer Beerdigung: Als ich vorneweg zum Altar ging, merkte ich plötzlich, daß der Sarg nicht mehr hinter mir war. Als ich mich umdrehte, sah ich, daß einer der Sargträger die Hose verloren hatte und den Sarg beinahe fallen ließ.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen