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Die Schuld und das Schweigen

■ Gesine Schwan hat einen gedankenreichen Essay zum Thema vorgelegt: Schuld und kaltes Beschweigen zerstören Demokratie

Die Empörung über den mißlungenen Umgang mit der NS- Vergangenheit weicht. Bundesdeutsche Vergangenheitsbewältigung wird mittlerweile nicht mehr als Chronik von Defiziten und Skandalen gelesen. Allein der stilisierte Antifaschismus der DDR als negatives Gegenbeispiel führt vielerorts zu der Auffassung, die Bewältigungs-Bilanz sei im Grunde besser als ihr Ruf.

Da legt Gesine Schwan einen Essay vor, der weit mehr ist als nur ein weiterer Titel zur mißlungenen Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Es geht der Berliner Politologin um Schuld – im biblischen, psychologischen und philosophischen Sinne. Es geht ihr um all die Implikationen, derentwegen dieser Begriff bisher mit Vorsicht genossen wurde. Sie spricht von der Schuld, die Deutsche im Nationalsozialismus mit dem Holocaust und in der DDR durch die Zerstörung jeglicher persönlicher Integrität auf sich geladen haben.

Daß die Frage nach Schuld keinem urdeutschem Hang zur Selbstdemütigung „geschuldet“ ist, wie es die neurechte Entourage glauben machen will, zeigen Tribunale und Wahrheitskommissionen, die von Bosnien über Südafrika und Ruanda bis Argentinien Menschheitsverbrechen behandeln. Für Gesine Schwan ist Schuld eine „Grundbefindlichkeit des Menschen“, eine zentrale Kategorie in der deutschen Politik: „Moralische Schuld vererbt sich nicht, aber die psychischen und moralischen Folgen ihres Beschweigens beschädigen noch die folgenden Generationen und den Grundkonsens einer Demokratie.“

Schwan argumentiert sozialpsychologisch, und zwar äußerst gedanken- und kenntnisreich. Zu einer Demokratie gehören demokratische Charaktere mit einer intakten Gefühlswelt. Formal ist Schuld der Verzicht auf die personale Identität oder Akzeptieren eines Selbstwiderspruchs. Die Übernahme von Schuld beeinträchtigt nicht die persönliche (oder nationale) Identität, sie ist ihre Voraussetzung. Schweigen mindert das Selbstwertgefühl, steigert die Bereitschaft zur Anpassung, das Bedürfnis nach Autoritäten, Phantasielosigkeit, Angst und Aggressionen.

Das sind nicht nur Eigenschaften, die einer demokratischen Persönlichkeit zutiefst widersprechen, sondern es sind auch genau diejenigen, die so viele Deutsche zu feigen Zuschauern und eifrigen Komplizen werden ließen. Nach 1945 klagten die Angeklagten, totaler Selbsttäuschung verfallen, die Ankläger an. „Bombenterror“ und Vertreibung dienten der eigenen Entlastung. In ihrer Unfähigkeit, sich selbst als Täter anzuerkennen, büßten die Deutschen auch die Fähigkeit ein, sich selbst als verantwortliche Subjekte zu begreifen; sie blieben hörig. So konnte denn auch Hannah Arendt die neue, verordnete demokratische Gesinnung der Deutschen als neue Version des Konformismus erklären.

Für Schwan kulminierte das Schweigen in der Gefühlskälte deutscher Familien. Die Heuchelei der Eltern, ihr fehlender Mut und ihr kaltes Vergessen untergruben ihre Autorität und gebaren den bloßen Autoritarismus. Den Kindern bleibt nichts als blinde Identifikation oder (unmündige) Rebellion. Daß Rebellion aber keineswegs untergründige Kontinuitäten von Denk- und Verhaltensmustern außer Kraft setzt, bewiesen für Schwan die 68er. Ihre emotionale Integrität als selbständige Personen sei völlig gestört gewesen. Härte, Spott und Gefühllosigkeit, mit denen sie ihre Eltern belegten, brachten eben die Destruktivität und Arroganz zum Vorschein, gegen die sie aufbegehrten. Doch Grund, dies nur auf die Eltern zu schieben, ist das nicht: „Wir sind auch für unsere Neurosen verantwortlich.“

In diesem Abschnitt zeigt sich das Manko des Buches. Schwan schöpft reichlich aus einem theoretischen Erkenntnisschatz, unterfüttert diesen aber wenig mit handfesten Belegen der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung. Wie wünschenswert wäre es an dieser Stelle gewesen, über den Umschlag der Rebellion gegen den Autoritarismus der Eltern in die kalte Gewalt der RAF zu lesen. Oder an anderer Stelle über die Wiedergutmachungspolitik gegenüber Israel bei gleichzeitiger Amnestierung von Kriegsverbrechern.

Doch wie ist herauszukommen aus dem Kreis von Schuld, Schweigen und Destruktivität, der sich von Generation zu Generation fortsetzt? Gesine Schwan plädiert dafür, Schweigen gemeinsam zu überwinden. Täter müssen ihre Schuld aussprechen, aber es muß auch ein Klima geschaffen werden, in dem sie dies tun können. Mut, Offenheit und Toleranz sind das demokratische Gegenteil von Gleichgültigkeit. Thekla Dannenberg

Gesine Schwan: „Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens“. Fischer TB, Frankfurt a.M. 1997, 283 Seiten, 19,90 DM

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