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„Das Urteil hat eine gefährliche Tendenz“

■ Ein „Werksvertrag“ ist für so manchen Arzt unerträglich, andere fordern Qualitätskontrolle

Der Vizepräsident der Bundesärztekammer, Professor Jörg- Dietrich Hoppe, sieht in dem Karlsruher Urteilsspruch eine „gefährliche Tendenz“: Die Diffenzierung des Gerichts zwischen dem moralischen Existenzrecht eines Kindes und dem Kind als wirtschaftlichem Schaden sei schwer nachzuvollziehen. „In den Köpfen wird sich festsetzen: Ein behindertes Kind ist ein Schaden.“

Ebenso fatal findet der Ärztekammer-Vize die „werksvertragsähnliche Sicht“ der höchsten Richter: „Biologische Prozesse dürfen nicht mit Produkten im Sinne eines Werksauftrags verwechselt werden.“ Hier gebe es zu viele Unwägbarkeiten: Auch ein durchtrennter Samenleiter könne wieder zusammenwachsen. Wenn Ärzte darüber nicht genügend aufklärten, sei das zu rügen. Aber eine hundertprozentige Vertragserfüllung könne und dürfe von ihnen nicht erwartet werden.

Müssen sich die Ärzte in Zukunft mehr vorsehen? „Sie müssen entweder mehr aufpassen oder höhere Versicherungsprämien zahlen, um sich vor Schadenersatzzahlungen zu schützen“, meint Hoppe. Er will auch nicht ausschließen, daß das Karlsruher Urteil indirekt zu einer höheren Abtreibungsrate führen könnte, weil Ärzte im Zweifelsfall zum Abort raten.

Eine gänzlich andere Sicht hat Professor Spielmann, Mitglied der Ethikkommission der Berliner Ärztekammer. Er findet die „werksvertragsähnliche Sicht“ richtig: „Es gibt zuwenig Qualitätskontrolle bei den Ärzten.“ Eine Sterilisation oder eine genetische Familienberatung sei eine Art Vertrag zwischen Arzt und Patient. Nun komme es darauf an, was der Arzt sage und was die Menschen verstünden. Wenn der zu Schadenersatz verurteilte Arzt gesagt haben sollte, ein behindertes Kind sei mit Sicherheit auszuschließen, dann „entspricht das nicht dem gegenwärtigen Wissen, denn absolute Sicherheit gibt es nicht“.

„Ich staune.“ Mit diesen Worten reagierte Professor Klaus Vetter, Vorsitzender der Berliner Perinatalkommission, auf das Urteil. Er finde es verwunderlich, daß das jetzige Urteil dem anderen von 1993 direkt widerspreche: „Eine Handlungsorientierung muß doch konsistent sein.“ Damals hieß es, ein Kind dürfe nicht als „Schaden“ gesehen werden.

Auch der Vizepräsident der Bundesärztekammer befindet: „Diese Diskrepanz schädigt das Ansehen des Gerichts.“ Der Urteilsspruch sei indes womöglich ein Anlaß für Richter und Ärzte nachzudenken: „Vielleicht haben wir Ärzte der Öffentlichkeit zuviel Sicherheit versprochen. Die Biologie geht manchmal andere Wege als gedacht.“ Ute Scheub

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