: De Gaullewitsch – eine Reinkarnation
Alexander Lebed war erst Kriegsheros in Afghanistan und Transnistrien, dann brachte er Frieden für Tschetschenien. Die Nummer eins bei Rußlands nächsten Präsidentschaftswahlen, einmal im Selbstporträt, einmal in Fremdbeschreibung, vorgestellt von ■ Andrea Goldberg
Unter der neuen Generation russischer Politiker, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den Vordergrund getreten ist, übt kaum einer eine solche Faszination aus wie General a.D. Alexander Lebed. Selbstredend findet man Biographien über ihn in beinahe allen führenden Buchhandlungen rund um die Welt. Auf deutsch sind gerade zwei umfangreiche Lebensbeschreibungen über den Mann erschienen, von dem in jedem Fall eines feststeht: Spekulationen darüber, wann und unter welchen Umständen er Präsident werden könnte, haben permanent Konjunktur. Wenigstens auf diesem Gebiet hat er es schon geschafft, sich seinem erklärten Vorbild, Charles de Gaulle, dessen Stärke auch aus dem Zusammenbruch des heimischen Imperiums sowie der Beendigung eines peripheren Bürgerkrieges herrührte, ebenbürtig zu zeigen.
Die praktische Seite dieses Vergleiches ist auch, daß damit einige Streitpunkte geklärt bzw. ausgeklammert werden; denn seit über 50 Jahren wird in Frankreich die Frage debattiert, ob de Gaulle ein Demokrat ist/war. Fest steht, daß de Gaulle sich eine maßgeschneiderte Verfassung verpaßt hat. Auch im anarchischen Rußland dürfte der Nachfolger Jelzins wieder das gleiche tun, was Stalin, Breschnew und Jelzin erfolgreich geschafft, Chruschtschow und Gorbatschow dagegen in den Sand gesetzt haben: den gesetzlichen Rahmen nach persönlichem Gusto zurechtzurücken.
Die deutsche Version von Lebeds Autobiographie trägt den abwegigen Titel „Rußlands Weg“. Abwegig, weil die Aussagekraft des russischen Titels, „Eine Schande für die Staatsmacht“, fehlt. Aber auch etwas irreführend, weil man sehr wenig über die jüngste Geschichte Rußlands erfährt. Dafür mehr Einzelheiten über den Lebens- und Leidensweg des Autors, als beim jetzigen Stand seiner Karriere nötig ist. Die Akribie, mit der Lebed seine Schulzeit, die wiederholten Musterungen, bis er es endlich geschafft hat, bei den Luftlandetruppen aufgenommen zu werden, seine Verletzungen beim Boxen, Turnen, Fallschirmspringen sowie unspektakuläre Einzelheiten aus dem Kasernenleben aufzeichnet, wird auf jeden Fall zukünftigen Biographen die Arbeit sehr erleichtern. Und in seiner Bescheidenheit, manchmal beinahe einfältigen Provinzialität ist Lebed auch durchaus glaubwürdig. Auch hat er bestimmt keinen Ghostwriter benutzt; der hätte viel gekürzt... Doch man sollte sich davor hüten, den Berufsmilitär aus dem Kosakendorf als „Unschuld vom Lande“ abzutun. Sein scharfsinniger, oft sarkastischer Witz, seine nach westlichen Maßstäben außerordentliche, in Rußland aber weitverbreitete Belesenheit und kulturelle Bildung schimmern auch durch die langatmigsten Beschreibungen. Hätte der Verlag nicht sadistischerweise auf ein praktisches Register verzichtet, wäre das Buch effizienter in der Handhabe; da auch noch die wunderbare russische Gewohnheit übernommen wird, Personen manchmal mit dem Nachnamen („Gorbatschow“), dann wieder mit Vornamen plus Patronym („Michail Sergejewitsch“) zu bezeichnen, kann der eher historisch als rein menschlich interessierte Leser kaum eine Seite ungestraft überspringen. Disziplin muß sein!
Die wichtigsten Einsätze von Lebeds Luftlandetruppen (die Feuerwehr par excellence) im zusammenbrechenden Sowjetreich (Afghanistan, Aserbaidschan, Georgien, Moldawien) zeigen, wie ein Berufsoffizier wegen der Orientierungslosigkeit der politischen Führung, der widersprüchlichen und oft Bevölkerung und Truppen gefährdenden Befehle es kaum vermeiden konnte, auch politische Entscheidungen zu treffen.
Merkwürdigerweise ist die Autobiographie (in Rußland 1995 erschienen, in Deutschland global bis 1997 aktualisiert) nur bis zu dem Moment konkret und detailliert, an dem Lebed aufhört, ein „unpolitischer Vater seiner Truppe“ zu sein. Während er im Kapitel „Das Theater, das sich ,Putsch‘ nannte“, das Verwirrspiel im August 1991, in dessen Folge Gorbatschow die Macht an Jelzin (und die 14 Republikszwerge) verlor, eingehend und enthüllend beschreibt, erwähnt Lebed nicht einmal die dramatischen Ereignisse von 1993, als beim Kampf um das „Weiße Haus“ sowohl Jelzin als auch seine Widersacher, Vizepräsident Alexander Ruzkoj und Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow, den „Statthalter von Transnistrien“ und Volkshelden General Lebed anriefen und aufforderten, ihnen zu Hilfe zu kommen (er lehnte dreimal dankend ab). Wie beinahe alle russischen Politiker kann sich Lebed eben noch nicht so richtig mit der offenen Informationsgesellschaft anfreunden.
Doch wo Lebed selbst sich zugeknöpft gibt, setzt Elisabeth Heresch an. Bis zu seiner politischen Profilierung in Transnistrien, der russischsprachigen Region Moldawiens, beschränkt sie sich in ihrer Biographie Lebeds im wesentlichen auf eine Zusammenfassung seiner Autobiographie. Leider gehen dabei Witz und Schärfe des Originals verloren, ohne daß die Geschichte mit Observationen von Dritten konterkariert wird. Über die Zeit im Zentrum der Macht wird dagegen ein breites Spektrum an Quellen zitiert, und Lebeds vier Monate als Jelzins Sekretär des Sicherheitsrats und Tschetschenien- Beauftragter formen den wichtigsten Teil des in einigen historischen Fakten leider schlampig recherchierten Buches: In Afghanistan sind nicht 66, sondern 10 Prozent der Bevölkerung in der ersten, antisowjetischen Phase des Bürgerkriegs umgekommen; auch ist die zweite Phase nicht vorrangig ein Kampf zwischen Sunniten und Schiiten. Manchmal verirrt die Autorin sich in den Größenordnungen des inflationären Rubels: Millionen, Billionen, Trillionen.
Aber recht überzeugend wirkt ihr Bild von Lebed als aufrechtem Einzelkämpfer, der sich wie kein anderer in den byzantinischen Gängen des Kremls der Verantwortung für das Blutvergießen und das Elend in Tschetschenien bewußt ist und der mit überraschendem diplomatischem Geschick und noch überraschenderer geschickter Öffentlichkeitsarbeit Jelzins Finsterlinge – den allgegenwärtigen Anatoli Tschubais, den blutrünstigen Innenminister Anatoli Kulikow und Premier Viktor Tschernomyrdin, in dessen Adern pures Öl fließt – gerade lange genug vom Leib zu halten weiß, bis er in Tschetschenien eine veredelte Kapitulation durchziehen konnte. Kissinger hat für einen ähnlichen Akt mal einen halben Friedensnobelpreis erhalten. Und das beste: Durch sein kurzes Intermezzo an den Schalthebeln der Macht bekam Lebed nicht einmal die Gelegenheit, seine weiße Weste zu beflecken. Das ist das Material, aus dem Mythen entstehen.
Alexander Lebed: „Rußlands Weg“, aus dem Russischen von Ulrike Fromm, Eva Rönnau und Katja Schuckschina, Spiegel Verlag/Hoffmann & Campe, 1997, 574 Seiten, 58 DM
Elisabeth Heresch: „Alexander Lebed – Krieg oder Friede“, Langen Müller, 336 Seiten, 49,90 DM
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