: Reiter und Zehen abgefallen
Silvester in der „Bahnhofs-Mission“: Lustiger als das Jahr 1998 ■ Von Christiane Kühl (Text) und Stephan Pflug (Fotos)
Wieder ein Jahr um und kaum ein Grund zu feiern: In der „Bahnhofs-Mission“, der künstlerisch-sozialen Einrichtung des Deutschen Schauspielhauses im Bieberhaus am Hauptbahnhof, tanzten, tranken und aßen am Silvesterabend Obdachlose unter sich. Die lustigen Papphütchen, Nasen und Masken konnten nicht verbergen, daß die meisten von ihnen vom neuen Jahr nicht mehr erwarten als vom vergangenen. Ein Leben „auf Platte“, Kleider aus Säcken und Suppe aus Kanonen. „Die da draußen haben uns doch sowieso abgeschrieben“, wurde hier auch am 31. Dezember häufiger gemurmelt als „Frohes neues Jahr!“gerufen.
Nichtsdestotrotz wurde kräftig gefeiert, und zwar nicht anders als an den meisten Orten in der Hansestadt. Mit Würstchen und Kartoffelsalat, Berlinern, einer Menge Knallern und ohrenbetäubender Musik vom Band. Die Tanzbewegungen waren ob des ausnahmsweise gestatteten Alkoholgenusses bisweilen etwas unkoordiniert, aber den überraschenden Hit des Abends, Achim Witts „Goldenen Reiter“, konnten fast alle auch nach einem Bier zuviel mitgrölen: „Hey, hey, hey, ich war so hoch auf der Leiter/ doch dann fiel ich ab.“
Bessere Zeiten haben alle gesehen, die Gründe fürs Silvesterfest in der Mission sind verschieden: „Letztes Jahr war ich in Hannover am Bahnhof, aber jetzt ist ja meine Frau hier im Knast am Holstenwall“, erzählt Roger und zieht sofort ein mächtig altes Bild einer Lady unterm Weihnachtsbaum aus der Tasche; Ulla, die unermüdlich Flamenco-Tanzende (Bild Mitte rechts), will all ihr Geld sparen, um ihrem verschwundenen Mann bald nach Ghana zu folgen. Andere stellen keine Fragen mehr, weil ihre Sorgen in der Zukunft liegen. „Mir sind vorgestern die großen Zehen abgefroren. Das ist doch komisch“, sagt Stefan (oben rechts), „wo die letzten beiden Winter doch viel härter waren.“Am Montag werden sie amputiert: „Dann wird es noch schwieriger, 1998 aufrecht zu gehen.“
Die Mission bleibt ab sofort bei Frost die ganze Nacht geöffnet.
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