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Heilung im 36-Stunden-Tag

Immer mehr Hamburger Ärzte fingieren ihre Abrechnungen. Staatsanwalt sieht „verstärkten Trend und höhere Summen“  ■ Von Lisa Schönemann

Wie ausgebufft Hamburgs Mediziner tatsächlich sind, weiß allein Hippokrates. Sicher ist jedoch: Bei den Honorarabrechnungen wird mit allen Tricks gearbeitet. „Ärzte, die schummeln“hat es nach Meinung von Staatsanwalt Manfred Wagner schon immer gegeben. „Aber der Trend hat sich verstärkt, und die Schadenssummen sind heute wesentlich höher als früher.“

Da werden blinde alte Damen ohne jegliche Aussicht auf Erfolg mehrfach operiert, Laborpraxen rechnen nicht existente Blutproben in Millionenhöhe ab, Ärzte stellen Untersuchungen in Rechnung, die sie gar nicht durchgeführt haben können, weil es in ihrer Praxis das entsprechende Gerät nicht gibt.

Die Anklagebehörde kommt der Gebührenakrobatik erst langsam auf die Schliche. „In der Regel bekommt man erst nach einem Anfangsverdacht im Gespräch mit den Patienten heraus, wo gefälscht wurde“, so Manfred Wagner. Zur Zeit ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen vier kardiologische Praxen wegen Betruges und gegen mehrere Chefärzte, die erhebliche Rabatte der Hersteller von Herzklappen einbehalten haben sollen. Wegen falscher Abrechnung ist der Chef eines privaten Notdienstes ins Visier der Ermittler geraten. Er erhielt Haftverschonung. Der Augenarzt, der außer bei der alten Dame in weiteren hundert Fällen überflüssige Eingriffe vornahm, wartet im Untersuchungsgefängnis auf den Beginn seiner Gerichtsverhandlung.

Neben den großen Verfahren, in denen es um Millionenbeträge geht, stapeln sich in Wagners Amtszimmer am Holstenwall die Aufzeichnungen über die kleinen Sünder: Mogeleien, die nur ans Tageslicht gekommen sind, weil Privatpatienten ihre Rechnungen genau angeschaut haben. „Allmählich kommt man dahinter, daß es da ein ungeheures Dunkelfeld gibt“, sagt Wagner, der „eine Menge Arbeit“auf sich zukommen sieht.

Wenn es um die kleinen und großen Schönheitsfehler ärztlicher Abrechnungen geht, erhält er seit neuestem „auch anonyme Hinweise von den Kollegen der betroffenen Ärzte“. Ein Indiz, so Wagner, für einen erheblichen Verteilungskampf unter den Ärzten, seit sich die Budgets der Kassenärztlichen Vereinigung im Sinkflug befinden.

Daß das Frisieren der Abrechnungen inzwischen für einen Teil der Kollegen zum Handwerk gehört, glaubt auch der Arzt Peter Zamory, bei der GAL zuständig für den Bereich Gesundheit. Ohne mit der Wimper zu zucken, stellten Hausärzte den Kassen Gespräche mit Patienten in Rechnung, die allein einen 36stündigen Arbeitstag ergeben. Das Einzelabrechnungssystem, so Zamory, lade regelrecht zum Betrug ein: „Sinnvoller wäre ein praxisgebundenes Budget.“

Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) teilt jedes Jahr rund 1,3 Milliarden Mark unter den 3060 niedergelassenen Ärzten der Hansestadt auf. Die Krankenversicherungen sind übrigens laut Sozialgesetzbuch dazu verpflichtet, auch Kassenpatienten einen Einblick in die Abrechnungen zu gewähren. Denn, so AOK-Chefin Karin Schwemin, „wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter“.

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