: „Mutter Teresa und Bill Gates in einer Person“
■ Die Arbeitsgesellschaft ohne Arbeit – ein Schreckgespenst? Es gibt Alternativen. Der Soziologe Ulrich Beck über sein Modell der Bürgerarbeit
Stellen Sie sich vor, Sie empfehlen einem Arbeitslosen Ihr Modell der Bürgerarbeit. Klingt ja alles schön und gut, wird er sagen, aber ein fester Arbeitsplatz wäre mir lieber.
Ulrich Beck: Das verstehe ich. Aber wir müssen uns endlich reinen Wein einschenken: Die Erwerbsarbeit schrumpft, und zwar in allen hochindustrialisierten Ländern. Die Unternehmen brauchen heute nur noch einen Bruchteil der Jobs, um ein Vielfaches ihrer Produkte herzustellen. Gleichzeitig drängen immer mehr Menschen – zunehmend Frauen, Jugendliche, Studenten und sogar Rentner – auf den Arbeitsmarkt. Bezahlte Arbeit ist in unserer Gesellschaft zum Wert an sich geworden: Ohne Arbeit kein Wohlstand, keine soziale Sicherheit, kein Ansehen.
Welche Folgen hat das für die Arbeitsgesellschaft, wie wir sie in Europa kennen?
Ihr Wertekern wird aufgelöst. Damit zerbricht ein historisches Bündnis zwischen Kapitalismus, Sozialstaat und Demokratie. Die Demokratie ist als Arbeitsdemokratie begründet worden. Sie beruht auf der Beteiligung an der Erwerbsarbeit. Der Bürger mußte auf irgendeine Art sein Geld verdienen, um seine politischen Freiheitsrechte wahrnehmen zu können. Insofern hat die Erwerbsarbeit nicht nur die private, sondern auch die politische Existenz begründet. Es geht also nicht nur um Millionen Arbeitslose oder um soziale Gerechtigkeit, sondern letzten Endes um die politische Demokratie in Europa. Wir brauchen eine Vision für eine Epoche, die Arbeit jenseits von Staat und Markt entwickelt. Hier setzt die Bürgerarbeit an.
Freiwilligkeit steht in unserer Gesellschaft nicht gerade hoch im Kurs. Wer, glauben Sie, sollte sich freiwillig sozial engagieren?
Menschen, die vorübergehend arbeitslos sind, Jugendliche vor der Berufsausbildung, Mütter nach dem Erziehungsurlaub, ältere Menschen im Übergang zur Rente – es gibt da ganz unterschiedliche Gruppen. Die Sozialwissenschaftler Rolf Heinze und Heiner Kreupp haben in empirischen Analysen für die Zukunftskommission herausgefunden, daß es in Deutschland viele Menschen gibt, die sich jenseits der klassischen Ehrenamtlichkeit engagieren wollen. Dieses „frei flottierende Potential“ kann nicht mehr von Kirchen, Vereinen oder Parteien gebunden werden. Gerade Jugendliche hassen Vereine mit ihren Formalismen, mit ihrem, wie sie es nennen, verschrobenen, verlogenen selbstlosen Engagement.
Und schon engagieren sie sich in der Bürgerarbeit?
Warum nicht? Die Jugendlichen sind nicht egoistisch oder desinteressiert an sozialen Tätigkeiten. Und die Bürgerarbeit kommt ihnen entgegen: Sie ist selbstorganisiert, auf konkrete, knackige Projekte bezogen und zeitlich begrenzt. Die Erfolge kann man selbst sehen und mitbestimmen. Man kann sich also sozial engagieren und gleichzeitig sich selbst entfalten. Diese veränderte Form des Engagements entspricht vielleicht am ehesten der Individualisierung unserer Gesellschaft.
Was ist das Ziel von Bürgerarbeit?
Tätigkeiten, die bisher staatlich organisiert waren, sollen mit stärkerer Eigeninitiative von Bürgern wahrgenommen werden.
Sollen das solche Aufgaben sein, die sonst keiner übernehmen würde?
Nein, Aufgaben in zentralen gesellschaftlichen Bereichen: Bildung, Umwelt, Krankenfürsorge, Sterbehilfe, Kultur, Betreuung von Obdachlosen oder Asylbewerbern. Viele der etablierten, professionalisierten Umgangsformen mit Armut, mit Drogenabhängigkeit oder mit Obdachlosigkeit sind doch nicht mehr zeitgemäß. Da wird oft nur noch verwaltet. Die Armen, Obdachlosen oder Drogenabhängigen müssen wieder selbst angesprochen und in die Lösung ihrer Probleme einbezogen werden.
Durch Bürgerarbeit?
Ja. In ganz unterschiedlichen Projekten können die Bürger dafür alle möglichen Formen erfinden und ausprobieren. Bürgerarbeit kann in diesem Sinne auch eine Art Kreativkultur sein, in der die moderne Gesellschaft für die vielen Probleme, die sie hat, im kleinen neuen Lösungen entwickelt, die dann wiederum auf die anderen gesellschaftlichen Bereiche übertragen werden können.
Nennen Sie mal ein, zwei Beispiele für Bürgerarbeit, wie Sie sie sich vorstellen.
Ein berühmter Sportler, der sich sozial engagieren will, ist gleichzeitig daran interessiert, Jugendliche von der Droge wegzubekommen. Weil er selbst die Erfahrung gemacht hat, wie schnell man bei Drogen in einen Strudel hineingezogen wird, begeistert er sie für seinen Sport. Er gewinnt andere berühmte Sportler dafür, die sein Projekt zusätzlich attraktiv machen und so die Jugendlichen von der Straße wegholt. In Großbritannien werden im Rahmen der Bürgerarbeit sogar gemischte Aufgaben übernommen. Es gibt Theatergruppen, die neue experimentelle Texte spielen. Um diese Gruppen herum haben sich bürgergesellschaftliche Zentren selbst organisiert, beispielsweise Cafés, die politische Diskussionen und kulturelle Aktionen veranstalten.
Bürgerarbeit verlangt Kreativität und Spontaneität. Wie organisiert man so etwas?
Das ist das zentrale Problem. Das können Sie in fast allen Gemeinden beobachten. Denen fällt unter den Bedingungen der sozialen Zwangsarbeit immer wieder nur dasselbe ein – Schnee schippen und Parks säubern. Bei der Bürgerarbeit soll dieses Problem von dem sogenannten Gemeinwohlunternehmer gelöst werden.
Welche Aufgaben hat er?
Er hat eine Vorstellung davon, was in der Gemeinde gemacht werden müßte, und er ist in der Lage, andere mit seiner Vision anzustecken. Er kann dies jedoch nicht in eigener Regie tun, sondern muß das mit der Kommune abstimmen. Von einem Ausschuß für Bürgerarbeit wird der Gemeinwohlunternehmer legitimiert, beraten und beauftragt; dort wird entschieden, welche Aufgaben die Kommune mit Bürgerarbeit und welche sie in eigener Regie lösen möchte.
Sie bezeichnen den Gemeinwohlunternehmer als eine Mischung aus Mutter Teresa und Bill Gates. In Deutschland finden Sie ja nicht mal einen Bill Gates.
Ein Gemeinwohlunternehmer kann ein normaler Rentner sein, voller Engagement und Erfahrung, der noch etwas tun möchte. Als ehemaliger Mathematiklehrer organisiert er ein Netzwerk für lernschwache Schüler und gibt ihnen Nachhilfeunterricht. Bei meinem Vergleich mit Bill Gates und Mutter Teresa habe ich sicherlich die zwei größtmöglichen Extreme gewählt – aber nur, um deutlich zu machen, daß der Gemeinwohlunternehmer das Unternehmerische mit der Arbeit für das Gemeinwohl verbindet.
Soll man für Bürgerarbeit Geld bekommen?
Ja. Bürgerarbeit muß eine attraktive Arbeitsform werden. Sie soll nicht entlohnt, aber belohnt werden – mit einem Bürgergeld, das als minimale Existenzsicherung letztlich allen zur Verfügung steht, die darauf angewiesen sind.
Wer bestimmt das?
Die Maßstäbe sind die gleichen wie bei der Sozialhilfe. Deshalb kann das erforderliche Geld aus den Haushalten der Sozialhilfe, gegegebenenfalls der Arbeitslosenhilfe, entnommen werden. Wenn Projekte allerdings gut laufen, das hat sich in Großbritannien gezeigt, kann das erwirtschaftete Geld als zusätzlicher materieller Anreiz eingesetzt werden.
Gibt es neben dem Bürgergeld auch immateriellen Belohnungen?
Ja, durch den Erwerb von beruflichen Qualifikationen, das Anerkennen von Rentenansprüchen und Sozialzeiten, die Freistellung von Steuerzahlungen sowie durch Ehrungen. Wer vorübergehend arbeitslos ist und sich qualifiziert, macht sich zum einen für Unternehmen attraktiv und verliert zum anderen den Makel der Arbeitslosigkeit. Bürgerarbeit könnte so ein Schritt zurück in die „normale Arbeitswelt“ sein.
Jetzt haben Sie alles Gute und Schöne mit ihrem Projekt Bürgerarbeit verbunden, aber eine entscheidende Frage nicht beantwortet: Wie soll das eigentlich finanziert werden? Die Kassen sind überall leer.
Die transnationalen Unternehmen, die längst nur noch „virtuelle Steuerzahler“ sind, müssen zur Kasse gebeten werden. Wir werden eine Debatte beginnen müssen, worin sich diese großen Konzerne ihren Beitrag für die Demokratie der Zukunft vorstellen. Dieser Beitrag kann sicher nicht darin bestehen, daß sie Arbeitsplätze in Billiglohnländer exportieren und keine Steuern mehr zahlen.
Die Konzerne werden sich freuen. In Deutschland heulen sie ja schon, wenn eine Lehrstellenabgabe auch nur im Gespräch ist.
Ich habe mehrere Gespräche mit großen Unternehmen geführt. Sie fanden die Idee der Bürgerarbeit sehr attraktiv. Die Unternehmer wissen, daß sie nicht umhinkommen werden, Bürgerarbeit mitzufinanzieren. Ich glaube, daß eine öffentliche Debatte in diesem Punkt Wunder bewirken kann.
Glauben Sie das wirklich?
Das Legitimationsvakuum, in dem die transnationalen Konzerne agieren, ist ihnen längst bewußt. In Amerika wird die Debatte darüber bereits offen geführt.
Die von Ihnen entwickelte Idee der Bürgerarbeit ist erst mal nur ein Modell. Wie wir daraus Wirklichkeit? Wer fängt damit an, wer übernimmt die Initiative?
Zuerst einmal muß in der öffentlichen Debatte die Grundidee der Bürgerarbeit vermittelt werden. Dann sollte es eine Art Modellversuch geben, der von den Ländern initiiert und bezahlt werden müßte und in dem Bürgerarbeit unter unterschiedlichsten Voraussetzungen – etwa in einer Großstadt und in einer ländlichen Region – getestet wird. Von Bayern und Sachsen habe ich bereits die Zusicherung, daß es dort ein solches Experiment geben soll.
Sie schwärmen von der Bürgerarbeit als einem „neuen, sozial verführerischen Zentrum gesellschaftlicher Aktivität“. Das klingt sehr neubritisch. Ist da der Tony Blair mit Ihnen durchgegangen?
Das wäre ja nicht das schlechteste. In der Situation, in der wir uns befinden, kann man so oder so reagieren: Mein Schwärmen hat ja vielleicht damit zu tun, daß die anderen immer nur schwarzmalen. Die Arbeitsgesellschaft ohne Arbeit wird von den meisten doch nur als Schreckgespenst wahrgenommen. Ich möchte dem mit der Bürgerarbeit eine Vision entgegensetzen.
Das Modell Greenpeace als permamente Lebensform?
Bürgerarbeit heißt doch nicht, daß Hunderttausende von Greenpeace-Aktivisten durchs Land ziehen, die ihr Engagement als Lebensberuf verstehen. Das Schrumpfen der Erwerbsarbeit hat ja nicht nur Dauerarbeitslosigkeit zur Folge, sondern auch, daß für viele Menschen mehr Freiräume im Alltag entstehen. Sie werden weniger Zeit in die Erwerbsarbeit investieren können und müssen. Bürgerarbeit ist also auch für Berufstätige interessant – beispielsweise als eine Art sabbatical, um einmal das zu tun, was man in seinem Beruf nicht machen kann.
Bürgerarbeit soll also mit der Erwerbsarbeit kombiniert werden?
Das ist möglich. Die Erwerbsarbeit verliert dadurch ihr Monopol. An ihre Stelle tritt eine plurale Tätigkeitsgesellschaft; im Extremfall kann man in verschiedenen Abschnitten des Lebens zwischen Erwerbsarbeit, Familienarbeit und Bürgerarbeit wechseln.
Und Sie glauben, mit dieser Art Subpolitik läßt sich Gerechtigkeit herstellen – gegen den Markt, gegen die „große Politik“?
Gerechtigkeit herzustellen, wird eines der zentralen Probleme der zweiten Moderne sein, weil wir mit einer dramatischen Zunahme sozialer Ungleichheiten rechnen müssen. Aber Bürgerarbeit allein kann nicht die Antwort darauf sein. Man darf von ihr nicht alles verlangen. Interview: Jens König
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