: Die Bremer Neustadt ist erst in Rio angelangt Rio
■ Seit 15 Monaten gibt es das Projekt „Nachhaltiges Quartier Neustadt“/ Vom Mehrwegweiser zum kombinierten Kinder- und Altenheim: ein kleiner Rundblick zum Stand der Entwicklung
„Die Bremer Neustadt“, sagt Thomas Lecke-Lopatta aus der Planungsbehörde, „die Bremer Neustadt ist nicht Kioto. Auf dem Weg zum nachhaltigen Quartier sind wir grad mal in Rio angelangt.“
In Rio de Janeiro erging 1992 beim Klimagipfel der Aufruf an alle Kommunen, bis Ende 1996 eine weltumgreifende „Lokale Agenda 21“zu gründen. Jeder sollte an seinem Ort aufbrechen in ein sanfteres 21. Jahrhundert. Doch in Deutschland konnten sich gerade mal 36 von 17.000 Kommunen dazu durchringen. Dabei gab es für das Projekt sogar Geld – in Nordrhein-Westfalen 50 Pfennig pro Einwohner und Jahr.
Bremen immerhin ist dabei, wenn auch ohne Haushaltstopf für die Agenda: „Nachhaltiges Entwickeln und Kameralismus, das ist doch ein Widerspruch in sich“, sagt die Aktivistin Imke Peter, CDU-Mitglied und Beiratssprecherin in der Neustadt. „Wir binden die einzelnen Ressorts lieber gezielt in einzelne Vorhaben ein.“
Mit 125.000 Mark muß das im November eingerichtete Agenda-Büro 1998 auskommen. Gut 16.000 Mark gehen davon an die Arbeitsgruppe 4 (AG4) „Nachhaltiges Quartier Neustadt“. Damit die mal konkret zeigen kann, was das heißen könnte: „umweltverträgliche Entwicklung vor Ort“.
Die AG4 existiert bereits seit 15 Monaten. Die Nachhaltigkeit ist aber noch im Projektstadium. Die Schlüsselprojekte listet eine Broschüre auf, die die Neustädter Planungsgruppe vor Ort gerade fertiggestellt hat. Kulturzentren, Gewerbehöfe, Verkehrsberuhigung, Mehrwegsysteme – unter dem Label „Agenda 21“findet alles Platz, was irgendwie einen lokalen, völkerverbindenden und/oder umweltschonenden Ansatz hat.
Das Projekt „Wohnwege zur Weser“ist der Traum von parkplatzfreien Zonen in den Querstraßen zum Buntentorsteinweg, wo Kinder und Eltern dann unbehelligt zur Kleinen Weser flanieren können. Aber: „Bloß keine übergestülpten Konzepte!“, warnt Peter Müller vom BUND. In diesem Monat wird er erstmal eine große Bürgerbefragung durchführen. Anwohnerparklizenzen und verbesserte Übergänge an der Kornstraße sind die Ziele. Mit Schlagworten wie „autofreie Zone“will man niemanden verschrecken, denn fünf Millionen Mark würde die Sache kosten. Da muß auch der Verkehrssenator eingebunden werden.
Im Jahr 2001 will man's geschafft haben. Vielleicht hat sich dann auch der Hol- und Bringedienst etabliert, über den Günter Warsewa mit den Neustädter Einzelhändlern nachdenkt. „Tratsch ohne Tragen“sei das Motto, so der Hochschul-Mitarbeiter, der mit kleinteiligem Handel den Wertkaufs und Weserparks auf der grünen Wiese das Wasser abgraben will. Nicht zuletzt aus volkswirtschaftlichen Gründen. Immerhin lebt fast jeder fünfte Erwerbstätige in der Nähe seines Arbeitsplatzes.
Damit das so bleibt, will man die Kunden binden. Mit einem Bringedienst, der den Alten die reparierten Schuhe nach Hause schafft und der alleinverdienenden Mutter das Abendessen vor die Tür stellt. Eine Welt der kurzen Wege sei ökologisch, sozial und ökonomisch verträglich, referiert Warsewa Leitlinien der Agenda.
Doch leicht wird er es nicht haben. Zwei von drei Einzelhändlern haben heute schon ihren eigenen Bringeservice. Für Delikatessen-Uchtmann bringen Schüler schon seit zwanzig Jahren die Milch mit dem Handwagen um die Ecke. Soll man das aufgeben für einen zentralen Dienst? „Das wäre doch viel effizienter“sagt Warsewa. Mit einer elektronischen Tourenplanung und einem gasbetriebenen Auto von den Stadtwerken. Und mit einem „Mehrwegweiser“für abfallarmes Einkaufen in der Neustadt. Aber selbst die nette Dilek Atakli vom Obst & Gemüseladen „Limon“fragt zweifelnd: „Wäre das nicht schade für die Schüler, die das jetzt für uns machen?“
Wenn nicht, dann nicht, heißt es da von der Beirätin Imke Peter. „Selbst wenn am Ende ein paar Supermärkte mehr solch einen privaten Bringedienst organisieren, wäre das ein Erfolg“. Ein paar Jugendliche hätten wieder was zu tun, und die Agenda-Idee hätte weitere Kreise gezogen.
Das findet auch Thomas Lecke-Lopatta von der Planungsbehörde. „Bloß nicht mehr die großen Projekte aus dem Boden stampfen“, sagt er. „Die Leute müssen einfach ins Gespräch miteinander kommen.“Zum Beispiel mit den Bewohnern des Ökohauses „Anders wohnen“in der Grünenstraße 17. Die sind sozusagen ein fester Textbaustein im Neustädter Agenda-Prozess. Ein Genossenschaftshaus mit 20 Wohnungen und viel Gemeinschaftsraum, geplant und gebaut von denen, die darin wohnen. Mit zwei Autos bei vierzig Bewohnern. Mit einer (zur Zeit stinkenden) Grauwasseranlage im Keller zur Umnutzung des Badewassers für die Klospülung. Und mit einem Stromverbrauch von 6,43 Mark monatlich in Hannes Wähners Einzimmerwohnung. Auch die Ärztin Mechthild Klare wohnt hier: „Wenn wir unsere Tür einfach hinter uns zumachen wollten, dann wären wir nicht hier“, sagt sie. Ein Neustadt-Netzwerk, das wär was! Nach vier Treffen im Rahmen der Agenda seien die ersten Kontakte jetzt geknüpft. Beispielsweise zum katholischen Altersheim im Kirchweg, das mit seinem integrierten Kindergarten und den zehn Jahre alten Energiesparlampen als Herzstück einer verträglicheren Neustadt gilt. „Jetzt machen die eine Cafeteria für die Kleingärtner auf“, sagt Klare. „Ohne die Agenda wüßten wir das nicht.“
Häufig aber seien sie mit ihren Ideen und Hilfsangeboten eher aufgelaufen, sagt Regina Wehmeyer. Manchmal beginnt die Sozialarbeiterin aus dem Ökohaus dann zu zweifeln, ob die vielen Agenda-Treffs nicht nur heiße Luft produzieren. Bei dem Wiederaufbau des abgebrannten Jugendfreizeitheims in der Thedinghauser Straße hätten sich die Ökohäusler gern mit ihrem Erfahrungsschatz eingebracht. Aber „das Freizi“sei „dem Tom Lecke wohl ein zu heißes Eisen“, kritisieren sie den unermüdlichen Agenda-Macher in der Bremer Planungsbehörde.
Das Grundprinzip der „Lokalen Agenda 21“in der Neustadt nämlich, so trommelt man in der AG4 unermüdlich, sei der Konsens. Nicht zuletzt deshalb wird man im Jahr 1998 auf die Jugend setzen. Vielleicht mit einem „event“, gemeinsam mit den superaktiven Kids aus der Schule am Leibnizplatz, die mit ihrer Müll-Modenshow schon im ZDF waren und den Ehrgeiz haben, zur ersten müllfreien Schule Deutschlands zu werden.
Die Problemzonen hingegen, den Flughafen oder die Autobahn, will man lieber außenvorlassen. Der Verwaltungsleiter des Flughafens, Wolfgang Ernst, findet das völlig korrekt. Denn daß seine Rollbahnen etwas mit der Agenda 21 in der Neustadt zu tun haben könnten, das will er beim besten Willen nicht einsehen. ritz
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