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Die Lizenz zum Töten läuft nicht aus

Ein Sammelband „Zur Aktualität der Todesstrafe“ beschreibt neue Tendenzen zur Medizinisierung und Ökonomisierung dieser drakonischsten und atavistischsten Form der Sühne und warnt vor den Tücken allzu eingängiger menschenrechtlicher Gegenpositionen  ■ Von Andrea Böhm

Eigentlich greift man das Thema nicht gern auf. „Die Todesstrafe ist abgeschafft“, hat uns der Parlamentarische Rat 1949 unter Artikel 102 ins Grundgesetz geschrieben und damit den „Kopf ab!“-Parolen der Stammtische ebenso einen Riegel vorgeschoben wie populistischen Begierden von Politikern. Warum also öffentlich darüber diskutieren – und möglicherweise schlafende Hunde wecken? „Zur Aktualität der Todesstrafe“ heißt ein eben erschienener Sammelband, dem eine Initiative von amnesty international sowie eine interdisziplinäre Ringvorlesung an der Freien Universität Berlin zugrunde liegt. Aus philosophischer, völkerrechtlicher, politologischer und medizinischer Sicht wurde referiert und debattiert. Herausgekommen ist ein ebenso spannendes wie lehrreiches Buch, das an der Aktualität des Themas keinen Zweifel läßt. Wie auch in der alltäglichen Medienberichterstattung liegt der Schwerpunkt auf den USA, was man unter empirischen Gesichtspunkten als Fehlgewichtung kritisieren könnte. Schließlich werden zum Beispiel in China weit mehr Menschen und wegen weitaus geringerer Delikte als Mord verurteilt und ohne jede Berufungsmöglichkeit exekutiert. Bloß sind die USA nun einmal die einzige westliche Demokratie, die sich, wie Koautor Carel Mohn schreibt, von „einem allgemeinen zivilisatorischen Prozeß abgekoppelt hat“. Die Gründe für die Popularität der Todesstrafe in den USA versucht der FU-Politologe anhand einer Analyse des politischen und rechtlichen Systems und seiner Repräsentanten zu finden. Seine ebenso interessante wie kontroverse Schlußfolgerung widerspricht den gängigen Hinweisen auf „Wildwest“-Kultur und ein besonderes, „amerikanisches“ Verhältnis zur Gewalt und zum biblischen Rachegedanken. Im Gegensatz zu den europäischen Demokratien habe es, so Mohn, in den USA nie eine progressive Elite gegeben, die sich gegen den – mehr oder weniger stark geäußerten – Willen der Bevölkerungsmehrheit für die Abschaffung der Todesstrafe stark gemacht hätte. Statt den juristischen Rückenwind zu nutzen, den der Oberste Gerichtshof 1972 durch sein Moratorium zur Todesstrafe entfacht hat, hätten in den folgenden Jahrzehnten Politiker, Staatsanwälte und Richter zunehmend die Hemmung verloren, den Henker zum Wahlkampfgehilfen zu machen.

Mit einem anderen Phänomen – dem Einsatz von Ärzten als Gehilfen der Henkers – befaßt sich das Kapitel von Michael Huber, Mediziner an der Kölner Universität, und Torsten Lucas, Menschenrechtsbeauftragter der Ärztekammer Berlin. Es verdient zweifellos am meisten Beachtung, weil es die Modernisierung der Todesstrafe beschreibt: zum einen die relativ junge Tendenz zur „Hygienisierung“ von Hinrichtungen durch die Einführung der tödlichen Injektion und die Beteiligung von medizinischem Personal in den USA. Zum anderen die Ökonomisierung der Todesstrafe in China und Taiwan, wo die Anwendung zunehmend mit der in- und ausländischen Nachfrage nach Organen für Transplantationen verflochten wird. Beide Entwicklungen schaffen wachsende Akzeptanz und Legitimationszuwachs für die Todesstrafe. Die eine durch eine vermeintlich „schmerzfreie, saubere“ Form des Tötens, die andere durch das Argument, mit der Hinrichtung nicht nur Strafe und Vergeltung zu gewährleisten, sondern auch noch andere Menschenleben zu retten.

Vor diesem Hintergrund gewinnt jene Mahnung an Gewicht, die der deutsche Rechtsphilosoph Gustav Radbruch 1949 nach der Abstimmung im Parlamentarischen Rat an die künftigen Politikergenerationen richtete: Sie sollten „nicht schwach werden gegenüber dem Blutverlangen unbelehrbarer Massen“. Radbruchs Worte sollte man auch heute noch im Hinterkopf behalten: In aktuellen Umfragen befürworten die „unbelehrbaren Massen“ – genauer gesagt: 54 Prozent der Befragten in den alten und 59 Prozent in den neuen Bundesländern – die Todesstrafe für Drogenhändler. In aktualisierten Grundgesetzkommentaren erklären Verfassungsrechtler wie der CDU-Politiker Rupert Scholz Artikel 102 weiterhin für revidierbar und nehmen ihn damit aus dem in Artikel 1 festgelegten und unveränderbaren Schutz der Menschenwürde heraus.

Wer sich von den unbelehrbaren Massen oder Juristen distanzieren möchte, den warnt Koautor Georg Lohmann, Professor für Philosophie an der Magdeburger Otto-von-Guericke-Universität, allerdings ausdrücklich davor, seine Ablehnung auf „apodiktischen oder absoluten Auffassungen“ wie dem absoluten Menschenrecht auf Leben aufzubauen. Eine Prämisse, die zum Beispiel mit dem Hinweis auf das Notwehrrecht sofort wieder ihrer Absolutheit beraubt werden kann.

Eine philosophisch begründete Opposition „ist vielmehr angewiesen auf die Verarbeitung historischer Erfahrungen mit der empirischen Wirklichkeit der Todesstrafe im Lichte moralischer und ethischer Überzeugungen und drückt in der Tat so etwas wie einen Lernprozeß aus“. So sei das Buch auch und gerade jenen empfohlen, die diesen bereits für abgeschlossen halten.

Christian Boulanger, Vera Heyes, Philip Hanfling (Hrsg.): „Zur Aktualität der Todesstrafe“. Berlin Verlag, 1997, 165 Seiten, 29 DM

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