: Ein Hauch Toskana in Oberschöneweide
In Ostberlins größtem Industriegebiet werden die Fabriken dichtgemacht. Ein Investor träumt von der Wiedergeburt des Stadtteils als Dienstleistungs- und Kulturzentrum, die AnwohnerInnen träumen von den alten Zeiten ■ Aus Berlin Hannes Koch
Ihr Leben war Aufbau. 41 Jahre im Kabelwerk. Ausgezeichnet als „Bestarbeiterin“ und „Aktivistin der sozialistischen Arbeit“. Schließlich haben sie ihr noch das „Banner der Arbeit“ verliehen. 1987 ist sie in Rente gegangen. „Mein Gott, ich habe meine Tätigkeit eigentlich ganz normal gemacht“, sagt sie. Die dreistöckigen Häuser mit den Werkswohnungen im Berliner Stadtteil Oberschöneweide baute Gisela Martin zwischen 1957 und 1959 nach Schichtende selbst mit auf. „Zwölf Nachtwachen gehörten dazu, damit keiner das Baumaterial klaut.“ Sie wohnt immer noch hier. Bloß von dem Werk ist nicht mehr viel übrig.
„Es gibt hier auch schöne Ecken“, sagt Gisela Martin, als sie aus dem Haus tritt, um ihre Runde ums Karree zu machen. Die Vorgärten und Rasenflächen zwischen den Blocks der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft befreien die BewohnerInnen regelmäßig und penibel vom herabfallenden Laub der 40 Jahre alten Bäume. Gisela Martins täglicher Gang führt über einen Pflasterweg, in dessen Fugen sich kein Unkraut zeigt, hinaus auf die großzügige Allee mit ihrem baumbestandenen Mittelstreifen, die in langen Kurven das Wohngebiet durchzieht. Die Fassaden sind renoviert.
Ein wenig proletarischer Wohlstand gepaart mit der Liebe zur bürgerlich-beschaulichen Gartenstadt. Ein paar Schritte sind es jetzt noch zur Wilhelminenhofstraße, der Schlagader des Stadtteils im Südosten Berlins. Hier flanierten früher jung und alt. Heute herrscht Zusammenbruch. Gut zwei Dutzend Häuser auf einem Kilometer stehen leer, Risse sprengen die Wände, weil die Grundmauern in den feuchten Untergrund der nahen Spree absacken. „Dort drüben hatte der Herrenausstatter sein Geschäft“, weist Gisela Martin auf die andere Straßenseite. Die Fensteröffnungen im dunkelgrauen DDR-Putz sind mit Spanplatten vernagelt. Im Blumengeschäft „Ewiger Frühling“ herrscht ewige Stille. Die Wohnungen darüber sind nicht mehr vermietet.
Beim privaten Bäcker Strauch, der sich fast die ganze DDR-Zeit hindurch gehalten hatte, hatten sie zu allen Feierlichkeiten im Werk große Bleche mit Streuselkuchen geholt. Heute steht der Bäckerladen leer. Auf die Brettern vor dem Fenster hat eine „Sozialistische Arbeiter Vereinigung“ ihr gelbes Plakat geklebt: „Keine Schließung des Kabelwerks Oberspree – Erhalt aller Arbeitsplätze“. Die Kneipe „Zur Stumpfen Ecke“ gibt es noch. Dort fiel die Aufforderung zur letzten Bestellung immer zeitgleich zusammen mit dem Ende der Spätschicht, weshalb kurz vor Schichtende oft ein Kollege aus dem Kabelwerk herüberflitzte, um kurz vor Toresschluß noch eine Runde für die Belegschaft zu sichern. Jetzt sitzen keine ArbeiterInnen mehr in der Kneipe, sondern Arbeitslose.
Während viele Häuser nur noch ein blinder Spiegel vergangener Zeiten sind, erstrahlen die ockerfarbenen Klinker der Industriekathedralen auf der anderen Straßenseite in neuem Glanz. Über zwei Kilometer reiht sich zwischen Spree und Wilhelminenhofstraße eine Fabrik an die nächste. Alles wurde für Millionen Mark renoviert. Doch produziert wird im frühreren Transformatorenwerk Oberschöneweide (TRO) nicht mehr. Von der AEG in den 20er Jahren errichtet, wurde die Fabrik nach der Rückübereignung von dem altneuen Eigentümer geschlossen. Ende 1996 war für die letzten 400 „Trojaner“ Schluß.
Dem Kabelwerk Oberspree (KWO), in dem Gisela Martin arbeitete, geht es in diesen Wochen genauso: Der Eigentümer, der britische Konzern BICC, baut „Überkapazitäten“ ab. Während am Ende der DDR-Zeit etwa 25.000 Menschen in Oberschöneweide Beschäftigung fanden, sind es jetzt vielleicht noch 3.000. Von sechs großen Werken blieben zwei kleine. Insgesamt 280.000 Industriearbeitsplätze wurden seit 1990 in Berlin vernichtet. Doch in keinem anderen Stadtteil Berlins ist die plötzliche und ersatzlose Deindustrialisierung so kraß zu spüren wie in Oberschöneweide.
Der Zusammenhalt des Stadtteils zerbröckelt. Nach Arbeitsschluß strömten einst Tausende Malocher in die Geschäfte auf der Wilhelminenhofstraße. Denn hier war vieles zu bekommen, was man in den Konsumläden der Plattenbausiedlungen vergebens suchte. „Die Versorgung war oft besser als im Zentrum“, bestätigt Pierre Mundin, Besitzer eines Handwerksbetriebs für Einbauküchen und Inspirator des Geschäftsleute- Stammtisches von Oberschöneweide. In seinem Büro hängen drei Uhren, die die Zeit in Frankfurt/ Main, Tokio und New York anzeigen. Nur auf Reisen vergißt Pierre Mundin „all die Schwierigkeiten hier“.
Weniger Arbeiter, weniger Nachfrage. Die Geschäfte brechen zusammen, und viele BewohnerInnen ziehen weg – vor allem Leute, die sich Wohnungen in besserer Lage leisten können . Schließlich verfallen die Häuser. „Wer bleibt denn? Rentner, Sozialhilfeempänger, Arbeitslose. Und Jugendliche, die zu faul sind auszubrechen“, klagt der Küchenbauer. „Die Mischung der Bevölkerung ist nicht mehr da.“ Er trauert der „gesunden Arbeiterklasse“ und dem „kleinen Mittelstand“ nach.
Pierre Mundin und die anderen EinzelhändlerInnen stemmen sich trotzdem gegen die Depression und verbreiten Optimismus, nicht zuletzt, weil die Straße inzwischen als Sanierungsgebiet ausgeschrieben wurde. Mit Interesse und Argwohn zugleich betrachtet man, was sich seit einigen Monaten gegenüber auf dem alten Gelände von TRO ereignet.
Der Investor Peter Barg hat dort einige zehntausend Quadratmeter Industrieflächen und -hallen sehr billig gekauft und zieht das „Kultur- und Technologiezentrum Rathenau“ auf – benannt nach den Gründern der AEG. „Ein Hobby“, sagt Barg selbst. Geld verdienen muß er nicht mehr – davon hat der ehemalige Geschäftsführer des Brillenhändlers Ruhnke Optik genug. Barg ist kein Vertreter des Industriezeitalters. Zwar vermietet er auch Fabrikgebäude an Metallverarbeitungsfirmen und kümmert sich um die Ansiedlung einer Fertigung für Industrielaser. Aber in erster Linie sieht er sich als Mäzen und Mildtäter.
Eine Atelierlandschaft schwebt ihm vor, von MalerInnen, Grafikern und Bildhauern bevölkert, die stipendienfinanziert auf seinem Gelände auch wohnen sollen. KünstlerInnen des Stadtteils stellte er unlängst Ausstellungsräume kostenlos zur Verfügung. Und gegenwärtig steht im Transformatorenwerk ein großer Teil der ehemaligen Sammlung des Verbandes sowjetischer Künstler zum Verkauf. Der einnehmende Kunstfreund ist von seinem Projekt begeistert. „Ist die Aussicht nicht toll?“ preist er mit ausladender Geste die Lage direkt an der Spree. Die Handwerker, die Toilettenbecken aufbauen und Wände weiß fliesen, muß er von seinem breiten Kunstverständnis erst noch überzeugen: „Hoffentlich kommt bald ein Spraykünstler, der das hier verschönert.“
Natürlich möchte er sich mit seinem Mäzenatentum auch selbst verewigen. „Das Leben ist ein Geschenk, davon will man anderen etwas abgeben.“ Ob man in der „Stumpfen Ecke“ mit solchen Sätzen viel anfangen kann, sei dahingestellt. Bargs philanthropisches Engagement kennt vorerst jedenfalls kaum Grenzen. In Zukunft soll die alte Transformatorenfabrik als Kern einer Stiftung KünstlerInnen unterstützen und alten Menschen einen angenehmen Lebensabend bescheren.
Von seiner Großmutter, einer aus Mailand stammenden Kammersängerin, hat Barg nicht nur den Hang zum Musischen, sondern auch ein Quentchen italienische Lebensart geerbt. Eine Pinienallee will der neue Eigentümer anlegen lassen, von der Wilhelminenhofstraße hinab zur Spree. Eine Anlegestelle für Freizeitkapitäne ist schon fertig. Nun fehlt noch das Bistro, in dem man zum Sonnenuntergang einen Rotwein reicht. Mit einem Flair von Toskana gegen die Tristesse des Abbruchs.
Industrie geht, Dienstleistung kommt – das hat auch Barg erkannt. Wie in der Londoner Hafengegend, den „Docklands“, und der Hamburger Speicherstadt lädt alte Industriearchitektur am Wasser moderne NutzerInnen wie FinanzberaterInnen, DesignerInnen, ModeschöpferInnen und MalerInnen geradezu ein. Doch können die Docklands von Oberschöneweide, kann das Konglomerat aus wenig Produktion, mehr Büros und ganz viel Kulturdienstleistung das Loch füllen, das die sterbenden Fabriken hinterlassen? Pierre Mundin ist skeptisch. Er nennt als Beispiel eine Gebäudereinigungsfirma, die bei TRO residiert. Ein gutes Dutzend Büroangestellte managen von dort 150 AußendienstmitarbeiterInnen, die in der ganzen Stadt unterwegs sind. Von deren Nachfrage haben die Geschäfte in Oberschöneweide nichts.
Auch von den KulturkonsumentInnen wird der Stadtteil einstweilen nur wenig profitieren. Die AusstellungsbesucherInnen wohnen woanders und reisen meist abends in den Südosten – nach Ladenschluß. Bislang hingen Arbeiten, Wohnen und Konsum eng miteinander zusammen. Der Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft trennt diese Funktionen nun voneinander und verstreut sie über die ganze Stadt.
Ob Oberschöneweide im Sog der Deindustrialisierung weiter abstürzt und zu einem Ghetto am Rande der Stadt verkommt oder das Kultur- und Technologiezentrum dem Stadtteil neue Kraft verleiht, ist einstweilen offen. Dieser Tage allerdings muß auch Kabelarbeiterin Gisela Martin bei ihrem Gang über die Hauptstraße feststellen, daß der beginnende Aufschwung bei TRO die Abwanderung der Einzelhändler nicht stoppen kann. „Das hier ist eines der ältesten Geschäfte auf der Straße.“ Doch der Händler Schaubeck mit seinen Briefmarken, Münzen und Alben hat ein Schild an die Türe gehängt. Ende Oktober zog er um in das schicke, einige Kilometer entfernte Einkaufszentrum.
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