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Der Westen im Morgenland

Wie weit ist der Weg der Türkei nach Europa? Der Wissenstransfer von West nach Ost ist schon länger ein Grundstein des türkischen Bildungssystems. Ein Porträt des Orient-Instituts in Istanbul und seine Geschichte. Kulturarbeit als Einmischung  ■ Von Fritz von Klinggräff

In Deutschland, Frühjahr 1933, siebte man die Wissenschaftler qua „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ nach politischen und rassistischen Kriterien. In der Türkei fanden sich nicht wenige der Exilwissenschaftler noch im selben Jahr am gleichen Katheder mit den Reichsprofessoren wieder. Gerufen hatte Atatürk, um im zehnten Jahr seiner Kulturrevolution von oben mit der Gründung der Istanbuler Hochschule die Westorientierung der Unis in Angriff zu nehmen. „Daß dieser Schritt erfolgreich war“, notieren Christopher Kubaseck und Günter Seufert vom Istanbuler Orient-Institut heute, „lag auch an der Katastrophe, die sich gleichzeitig in Deutschland ereignete“.

Eine gewagte These im Vorfeld des Symposions „Deutsche Exilwissenschaftler in der Türkei“, das die beiden Orientologen anläßlich der Zehnjahresfeier ihres Orient- Instituts vor einigen Wochen in Istanbul veranstalteten. Von Ernst Reuter, Bruno Taut und Leo Spitzer bis zum Biologen Alfred Heilbronn, dem Verfassungsrechtler Ernst Hirsch, dem Nationalökonomen Fritz Neumark waren insgesamt über 80 deutsche Exilanten aus nahezu allen Wissensbereichen an der Europäisierung des türkischen Unisystems beteiligt. Doch ob dieser „Paradefall“ eines totalen Wissenstransfers wirklich so „erfolgreich“ war, ist bisher nahezu unerforscht. Keine zwanzig Jahre später schon erlebte die Türkei seine zweite – amerikanische – Bildungsreform. An dem autoritär geführten, verschulten Uni-Alltag änderte dies bis heute nichts. Und auch auf methodologischer Ebene knirschte es bei der Einführung Diltheyschen Geistes in das osmanische Wissenssystem gewaltig im Getriebe. Man habe deshalb auch keineswegs vor, so Christopher Kubaseck, die Exilgeschichte als eine Gedenkveranstaltung abzufeiern. Und er erinnert an den türkischen Architekten Kirimli, der sich in der Nachfolge seines Lehrers, des Bauhaus-Architekten Wilfried Schütte, an eine ergonomisch fundierte Revision der Krankenhäuser machte. Er nahm seine soziale Aufgabe so ernst, daß er erst einmal 100 Fragebögen an alle Notaufnahmestationen in der Türkei schickte. Nur die Resistenz der Befragten hatte er nicht vorausgesehen. Der Rücklauf war gleich null, und das Projekt versandete. Doch wie halbherzig der west-östliche Wissenstransfer vor sechzig Jahren auch immer realisiert wurde – die beiden Veranstalter des Symposions betonen mit Blick auf den Kopftuchstreit an den Unis und die Auseinandersetzungen ums achte Pflichtschuljahr die Aktualität ihres Unternehmens: „Der Kulturkampf tobt auch heute, und wir wollen einen seiner Hintergründe, nämlich einen historischen Grundstein des derzeitigen Bildungssystems, in die Auseinandersetzung mit einbringen.“ Keine Frage also, das Orient- Institut müht sich um eine Einmischung in innertürkische Angelegenheiten.

Seit nunmehr zehn Jahren existiert die kleine Forschungseinrichtung an den Hängen des ehrwürdigen Stadtteils Chihangir. Der Blick aus dem Panoramafenster schweift über den Bosporus nach Asien und rüber ins alte Konstantinopel, wo sich nahe der Istanbul- Universität die Islamisten zum freitäglichen Protest gegen den Laizismus versammeln. Es zeugt von einem Sinn für Symbolik, daß das Institut zu seinem Jubiläum sich des türkischen Exils annimmt, als Ableger des „Orient-Instituts der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft“ in Beirut ist es selbst eine Art Emigrant. 1987 war der Stammsitz der 1961 gegründeten Einrichtung kriegsbedingt aus dem Libanon nach Istanbul verlegt worden. Doch als man 1994 nach Beirut zurückkehren konnte, hatte sich die Welt verändert. Istanbul lag nun nicht mehr nur an der Schwelle zur westlichen Welt, sondern erschien plötzlich als das künftige Zentrum aller Turkvölker vom Mittleren Osten bis Zentralasien – Mittelpunkt eines zu erschließenden Wirtschaftsraums und einer neubelebten Wissenschaft der Turkologie. „Doch die westeuropäische Hoffnung auf das schnelle Heranwachsen eines gigantischen neuen Handelspartners erfüllte sich sowenig wie der deutsche Traum von den blühenden Landschaften im eigenen Land“, sagt Institutsmitarbeiter Maurus Reinkowski. So ist die Zukunft des vom Bonner Forschungsministerium getragenen Instituts denn auch ungewiß, und die vier Wissenschaftler stehen gemeinsam mit ihren drei wissenschaftlichen Mitarbeitern in ständiger Beweispflicht für seine Existenzberechtigung.

Projekte aus dem Ärmel zaubern

Die Führung einer hervorragenden Bibliothek zur Turkologie und Orientalistik, die Organisation einer Vortragsreihe (aus kosmopolitischen Gründen in englischer Sprache), die Herausgabe oder Mitherausgabe mehrerer Publikationsreihen: die „Pera-Blätter“, die „Türkischen Welten“, die „Beiruter Texte und Studien“, die „Bibliotheca Islamica“. Hinzu kommen die populären Veröffentlichungen: hier 200 Seiten Einführung in die „moderne Türkei“, dort ein religionshistorischer Beitrag im Merian-Heft. Das ist das eine.

Das andere ist das Engagement der Mitarbeiter, die hier Verträge von höchstens zwei Jahren haben und statt ihre Habilitation oder Promotion voranzutreiben, Vorträge, Symposien, Projekte aus dem Ärmel zaubern. Um „die Kommunikation aufrechtzuerhalten“, sagt Christopher Kubaseck, zur Zeit Stipendiat am Institut zwecks Erforschung der Kommunalpolitik in Eskisir, nebenbei Mitveranstalter des Symposions zum Türkei-Exil, nebenbei Pressesprecher: „Das ist sicherlich unsere Hauptaufgabe hier. Ein Knotenpunkt zu sein für die Kontakte zwischen der deutschen Orientalistik und den türkischen Ansprechpartnern. Gerade weil hier immer noch so viel über persönliche Beziehungen läuft.“

Der Linguist Armin Bassarak hat viele graue Haare rund um den Kopf, ist erst vor kurzem aus Berlin gekommen und treibt neben der Verwaltung des Hauses seine Arbeit am „mythenumwobenen“ türkischen Emphasesuffix (-dir) voran. Ideologischer Chef des Hauses hingegen ist unumstritten Günter Seufert. Schon seit 1991 ist er mit dem Institut verbunden, damals als erster Stipendiat – und so ganz scheint er seitdem die Zügel nicht mehr aus der Hand gegeben zu haben. Zusammen mit Reinkowski und Kubaseck gibt er dem Institut heute seine sozialwissenschaftliche Prägung. Wobei man hier lieber die Betonung auf die „Methode“ legt: In einem Gebiet, das sowohl geographisch als auch ideologisch längst nicht mehr überschaubar ist – dem „Orient“ –, könne eigentlich nur noch mittels methodischer Abstimmung so etwas wie ein Diskussionszusammenhang zustande kommen, sagt Maurus Reinkowski. Der Satz des Historikers kann sowohl als Seitenhieb auf die Muttergesellschaft des Instituts verstanden werden – auf die Konturenlosigkeit der „Deutschen Morgenländischen Gesellschaft“ –, aber auch auf ihr Konkurrenzunternehmen, Udo Steinbachs Orient-Institut in Hamburg. „Die werden vom Außenministerium getragen und arbeiten nicht einmal mehr politologisch. Das ist ein politisches Unternehmen“, so Seufert. „Der Günter“, wie er hier in Istanbul heißt, kann sich solche flotten Sprüche leisten. In der Intelligenzija der Stadt ist er weithin bekannt. Der Leiter des Goethe-Instituts zitiert ihn mit dem gleichen Respekt wie der Literaturreferent des islamischen Arbeitgeberverbandes.

Der Islamismus differenziert sich

Die Studententreffs rund um die Beyazit-Moschee seien sein bevorzugter Studienort, schreibt Seufert in seinem jüngst erschienen Buch „Café Istanbul“: Hier widme er sich der Kardinaltugend des deutschen Wissenschaftlers: der Hermeneutik. Bei der EU hat er jetzt gemeinsam mit dem französischen Partnerinstitut in Istanbul, dem Institut Français d'Etudes Anatoliennes (IFEA), erstmals Drittmittel für das Orient-Institut losgeeist. Ein großes Forschungs- und Publikationsprojekt und ein gewaltiges Geschenk zum zehnjährigen Jubiläum, angelegt auf zwei Jahre und maßgeschneidert auf die Interessen des Soziologen. Seine These: Die Gefahr in der und durch die Türkei liege nicht beim Islamismus, sondern im Nationalismus, in einem kompromißlosen Republikanismus, „un et indivisible“. Zusatzthese: Die Kemalisten müßten begreifen, daß ihr Handeln zutiefst sunnitisch, also religiös bestimmt sei. Und die Islamisten sollten sich endlich ihre türkisch-nationale Gesinnung eingestehen. Mit dieser Zusatzthese findet Seuferts Projekt seine pädagogische Wendung – hin zu einer verstehenden Determinologie. Oder mit den Worten des Soziologen: „Der Prozeß der Hierarchisierung ist nicht aufzuhalten. Auch auf kultureller Ebene. So sehr der Islam an Bedeutung gewinnt, so sehr differenziert er sich auch weiter aus. Im islamischen Film, im islamischen Roman, in der islamischen Frauenbewegung. Langfristig wird sich in der Türkei eine funktionale Differenzierung nach dem Muster unserer Gesellschaft durchsetzen. Fragt sich nur, wie lange es dauert und wieviel Tote es kosten wird. Unser Projekt in diesem Prozeß ist ganz konkret: verschiedene der neuentstandenen und neuentstehenden funktionalen Gruppen in den kulturellen Lagern unter der Fragestellung zu untersuchen, inwieweit ihr Handeln sich vor dem kulturellen Hintergrund bestimme oder inwieweit sich da rationale Überlegungen ausbilden?“

Hugh! Wenn das nicht eine Einmischung des kleinen Instituts in die inneren Angelegenheiten der Türkei ist!

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