■ Gibt es 1998 eine große Koalition? Könnte sein – oder auch nicht: Schäuble, der Mathematiker
Es ist Wahlkampf, da kommen die etwas schlichteren Weisheiten immer gut an. Er könne eine große Koalition von Union und SPD nach der Bundestagswahl 1998 nicht ausschließen, hat Gerhard Schröder vor zwei Wochen verlauten lassen. Wolfgang Schäuble äußert sich heute im Spiegel ähnlich fundamental. „Meine Beherrschung der Grundrechenarten ist immer noch groß genug“, sagt der CDU/CSU- Fraktionsvorsitzende zu den Spekulationen über eine große Koalition, „daß ich natürlich weiß, daß es solche Situationen geben kann.“ Was haben wir davon zu halten? Vielleicht erst einmal das Naheliegende: Es kann Situationen geben, in denen eine große Koalition nicht auszuschließen ist.
Sonst noch was?
Diese leidenschaftslosen, um nicht zu sagen, banalen Erkenntnisse des politischen Einmaleins reichen allemal, um die beiden großen Parteien in Erklärungsnot zu bringen. Schröder und Schäuble offenbaren – vielleicht ungewollt, vielleicht aber auch mit Absicht – das Wahlkampfdilemma von SPD und CDU. Die Sozialdemokraten können ihren Wählern nur schwer erklären, warum sie nach der Bundestagswahl unter Umständen mit der Partei koalieren, die sie seit über 15 Jahren bekämpfen. Die CDU wiederum setzt mangels Alternative auf die simple wie bewährte Strategie des Lagerwahlkampfes gegen SPD, Grüne und PDS. Aber diese Strategie hat eine zentrale Schwäche: Helmut Kohl hat sein politisches Schicksal an das der FDP gekettet. Scheitern die Liberalen an der Fünfprozenthürde, ist Kohl längste Zeit Kanzler gewesen. Eine große Koalition, das gilt als sicher, wird er nicht führen. Kohl war deswegen nicht zufällig der erste, der Schäubles Äußerungen am Wochenende interpretierte: Schäuble habe im Grunde das gleiche gesagt wie er. Eine große Koalition werde es nicht geben.
Und wenn doch? Diese kleine Frage macht den Unterschied zwischen dem Kanzler und seinem Kronprinzen aus. Kohl läßt die Frage gar nicht erst nicht zu, Schäuble beantwortet sie. Der Fraktionschef will der CDU die einzige Hintertür, die sie noch hat, offen halten. Er weiß, und das nicht erst seit der versuchten großen Koalition bei der Steuerreform, daß die Gemeinsamkeiten zwischen Union und SPD gar nicht so gering sind, wie die Parteien immer vorgeben. „Am Wahlabend“, sagt Wolfgang Schäuble, „müssen wir das Ergebnis zur Kenntnis nehmen. Und dann sehen wir weiter.“ Da ist man ja fast schon dankbar, daß jemand in der Union die Grundrechenarten beherrscht. Jens König
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