: Gaumen-Kolonialisierung
Eine instruktive Neuerscheinung über Aromatrickser, Gesundheit und den Untergang des guten Geschmacks, mit Schaudern rezensiert von Diplomfeinschmecker ■ Manfred Kriener
Geschmack ist alles andere als Geschmackssache. Der Geschmack des Menschen hat für Körper und Gesundheit wichtige Überwachungsfunktionen. Die zuständigen Zellen werden deshalb sorgfältig gewartet und im festen Rhythmus von zehn Tagen erneuert. So bleiben die Sensoren für ihre Aufgabe fit. Sie warnen uns vor verdorbenen Speisen, helfen aber auch mit, die passenden Nahrungsmittel auszuwählen. Die Geschmacksantennen senden aber auch Botschaften an den Körper. „Sauer“ signalisiert unserer Stoffwechselzentrale die Ankunft von Vitaminen, „salzig“ bedeutet „Achtung Mineralschub!“, und bei der Geschmacksmeldung „süß“ stellt sich der Körper auf kräftige Kalorienzufuhr in Form von Kohlehydraten ein. Mit dem Siegeszug von künstlichen Aromen, Süßstoffen und Imitaten wird dieses natürliche Zusammenspiel von Sensorik und Stoffwechsel gestört. Skrupellose Geschmacksfälscher und Fooddesigner in den großen und kleinen Fabriken der Nahrungsmittelindustrie haben die natürliche Körpermusik außer Kraft gesetzt.
Sie täuschen uns mit Kunstkaviar aus Schlachtblutabfällen, kreieren Fleischersatz aus Klärschlamm, stellen Muscheln aus Schweinefleisch her. Sie machen Pfirsichduft aus Rizinusöl. Sie zaubern Pralinenfüllungen aus Erbsenbrei. Und sie produzieren Aroma, Aroma, Aroma. Darf's ein bißchen nach Weißbrotkruste schmecken, nach angerösteter Rinderlende oder nach einem Hauch Kokos im Abgang? Kein Problem: 6.000 Geschmacksstoffe werden inzwischen künstlich hergestellt. Nur zwölf Chemikalien reichen aus, um die Hühnersuppe mit ganzen zwei Gramm tieridentischem „Trockenhuhnzusatz“ auf den perfekten Geschmack des Federviehs zu tunen. Selbst Hunde- und Katzenfutter ist nicht vor dem Zugriff der Zunft gefeit. Haustiere sind schon lange auf künstliche Aromen dressiert. Auch ihnen wird Erdbeeraroma mit Schlagsahne untergejubelt, damit sie schneller wachsen.
Auf der Strecke bleibt der authentische Geschmack. Der Körper wird ausgetrickst. Weil der noch völlig altmodisch funktioniert, erhofft er sich vom Geschmackssignal „süß“ die Ankunft kräftiger Energiespender. Also wird Insulin ausgeschüttet, um die ankommenden Herrlichkeiten zu verarbeiten. Wenn statt dessen aber nur ein paar tote Kalorien in Form von chemischem Süßstoff den Schlund passieren, laufen alle Vorbereitungen ins Leere. Es entsteht ein „cephalischer Insulin- Reflex“: Heißhunger! In Vergleichstests legen Versuchspersonen, die künstlichen Süßstoff verwenden, mehr Gewicht zu als die Zuckerkonsumenten.
Inzwischen gibt es nicht nur künstlichen Süßstoff, sondern eine epidemisch ansteigende Zahl von Lebensmitteln, die mit Zusatzstoffen manipuliert werden. Jeder Deutsche nimmt täglich schon 500 Gramm industriell aromatisierte Lebensmittel zu sich – die Hälfte der täglichen Nahrungsmenge. Die Geschmacksindustrie ist zur Weltmacht aufgestiegen. Sie hat unseren Gaumen kolonialisiert, und wir haben es nicht einmal gemerkt. Hans-Ulrich Grimm hat der neuen Welt des Essens, jener brisanten Mischung aus Fleischabfall-Pellets und Babykost mit Fischölkomponente, die Glasur abgekratzt. Mit einer doppelten Portion Ironie und einer scharfen Prise Bösartigkeit berichtet er über den Inhalt in den Betonmischmaschinen der Food- Konzerne, über Etikettendichter und Menüdesigner, über Krebsrisiken und Allergien, über den Untergang des guten Geschmacks.
Eine grandios beschriebene, geballte Ladung Eß-Information, die Namen und Adressen der Geschmacksfälscher nennt. Wußten Sie, daß der Aufdruck „natürliche Aromen“ beim Erdbeerjoghurt in der Regel bedeutet, daß das Fruchtaroma aus Sägespänen gewonnen wurde? Sägemehl ist nämlich Natur pur und muß deshalb bei den Ingredienzen nicht als künstliches Aroma geoutet werden. Wenn nur „Aroma“ draufsteht, ist es in der Regel ebenfalls Sägemehl.
Wußten Sie ferner, daß viele Metzgereien ihrer Kundschaft den Rauchgeschmack nur vortäuschen und ihre Wurst, statt sie in die Rauchkammer zu hängen, mit flüssigem Raucharoma besprühen? Grimm klärt auf, nennt Roß und Reiter, Metzgereiadressen aus der gesamten Republik. Aber Vorsicht: Der Appetit leidet nach der Lektüre. Es sei denn, man und frau kocht noch selbst – ganz ohne Sägemehl und Klärschlamm, mit naturidentischen Zutaten.
Hans-Ulrich Grimm: „Die Suppe lügt – die schöne neue Welt des Essens“, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1997, 189 Seiten, 36 DM
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