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■ Antiquierte Thesen über den männlichen SexualtriebWohin mit der Manneskraft?

„Wir wollen uns darüber nicht täuschen, daß der Geschlechtstrieb der stärkste aller Triebe ist, daß er über uns kommen kann wie ein verzehrendes Feuer, wie ein alles verschlingendes Meer.“ Das hat Hans Wegener aus Moers am Niederrhein geschrieben, und damit hat er recht.

„Wir jungen Männer“ heißt sein Buch, und bis heute hat es sich weit über zweihunderttausendmal verkauft. Der kleine Sachbuch-Bestseller mit dem Untertitel „Das sexuelle Problem des gebildeten jungen Mannes vor der Ehe“ wirft zunächst einmal die Frage auf, ob die Bildung einen Unterschied macht. Glaubt man den in diesem Punkt übereinstimmenden Aussagen junger Frauen, ist dies durchaus der Fall.

Wenn es darum geht, unerwünschte Annäherungsversuche abzuwehren, sind gebildete junge Männer viel leichter in ihre Schranken zu verweisen. Sind derlei Versuche jedoch erwünscht und am Ende gar erfolgreich, sind unter den ungebildeten Männern weitaus weniger „Klemmis“ anzutreffen als unter den gebildeten. Die sexuelle Verklemmtheit mancher Intellektueller, so die Aussage einer Kollegin, die es einfach wissen muß, hat schon so manches Techtelmechtel im Keim erstickt. Hans Wegener sieht das alles ein wenig anders. Er hat sein Werk Sohn Hermann gewidmet: „Möge das Buch das Gemeinsame zwischen Dir und mir noch mehr verankern.“ Aber gibt es wirklich so viele Gemeinsamkeiten zwischen Vater und Sohn? Muß nicht Hermann seine eigenen Erlebnisse verkraften und ganz eigene Erfahrungen machen – Erfahrungen, die ihm der Vater niemals abnehmen kann?

Wegeners Ziel ist es, die ab einem gewissen Alter einsetzende zügellose und scheinbar unkontrollierbare Manneskraft seines Sohnes und die anderer junger Männer in die richtigen Bahnen zu lenken. Daß dies ein mitunter schwieriges Unterfangen ist, zeigt schon das Kapitel über den damit einhergehenden Geschlechtstrieb: „Sehr viele Knaben verfallen im Alter der beginnenden Geschlechtsreife der Selbstbefriedigung (Onanie). Sie erleben dann sehr bald die Enttäuschung, daß diese naturwidrige Art der Geschlechtsbefriedigung ihnen nicht die erwartete Beruhigung bringt, sondern im Gegenteil die Beunruhigung bis zur Qual vergrößert.“ Was also tun, und vor allem: wohin mit dem Zeug?

Mit dem, was Herr Wegener hier empfiehlt, werden aufgeklärte junge Männer nicht so recht einverstanden sein. Wir empfehlen deshalb: Machen Sie es trotzdem! Der Gang zur Prostituierten, das kann es nicht sein, und an diesem Punkt stimmen wir mit Herrn Wegener durchaus überein. Aber der Autor geht noch weiter, will Kräfte sammeln, anstatt sie zu vergeuden. „Arbeiten und nicht verzweifeln“ ist das Motto und zugleich die Botschaft seines Buches, und das wird auf jeder Seite deutlich. Auch ein vor- oder gar außereheliches Verhältnis mag er nicht zugestehen, und selbst sexuelle Kontakte während der Verlobungszeit soll sich der gebildete junge Mann verkneifen.

Aufsparen für die Ehe – das entspricht einem Trend, der derzeit aus Amerika zu uns herüberschwappt. Verlobten Paaren mit ungebildeten Partnern in ländlichen Gegenden gesteht Wegener durchaus zu, daß sie es miteinander treiben. Daran könne man ohnehin nichts ändern, meint er – und vergißt dabei, daß sexuelle Umtriebe, ob gebildet oder nicht, mit der Ehe noch lange nicht ihr Ende gefunden haben. Dieter Grönling

Hans Wegener: „Wir jungen Männer – das sexuelle Problem des gebildeten jungen Mannes vor der Ehe“; Karl Robert Langewiesche Verlag, Königstein/Taunus u. Leipzig 1906; 128 Seiten, Preis nach Vereinbarung

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