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Neue Wahlverwandtschaften

Im Kino: In den Dokumentarfilmen „Jeckes“ und „Diese Tage in Terezin“ machen sich deutsche Dokumentaristen auf die Suche nach den Verwüstungen der Nazigeschichte und erfinden sich – nicht ohne Probleme – die jeweiligen Familien dazu  ■ Von Stefan Reinecke

In diesem Jahrzehnt sterben viele, vielleicht die letzten, die den Holocaust überlebt haben. Da muß es vielleicht eine besondere Aufgabe des Dokumentarfilms sein, diesen Moment zu fixieren: den Augenblick, in dem mit den Zeitzeugen die erlebte und erzählbare Geschichte verschwindet und sich in „fiktionale“ verwandelt.

Zu zeigen, was verschwindet, mag auch ein Motiv für „Jeckes – Die entfernten Verwandten“ gewesen sein. „Jeckes“ ist ein flotter Porträtfilm über sieben deutschstämmige Juden, die in den 30ern vor Hitler nach Palästina flohen. Daß die Regisseure Jens Meurer und Carsten Hueck, beide Mitte 30, mit einer pathetischen Aufladung des Moments des Verschwindens nichts im Sinn haben, bedeuten sie uns gleich zu Anfang: Dort sieht man, was normalerweise fehlt – die Szene vor und nach den Interviews: „Oh, läuft die Kamera schon?“ So erwächst ein Flair des Improvisierten und das Versprechen, durch keinerlei Konvention beengtes Authentisches zu sehen.

„Jeckes“ reiht Porträt an Porträt, Anekdote an Anekdote. Das fällt recht vernüglich aus, weil die meisten Figuren amüsant zu erzählen verstehen. Paul Jacobi etwa, der mit Mitte 20 aus Königsberg emigrierte, in Jerusalem Bürgermeister war und mit Vergnügen den Vers zitiert, mit dem die örtliche Druckerei in seiner Heimat zu Kaisers Geburtstag ihr Schaufenster schmückte: „Heute wird nicht gepappt, heute wird nicht geklebt, heute ist der Geburtstag seiner Majestät“. Die Jeckes stammten oft aus dem Großbürgertum und waren auch in Palästina auf Ordnung, Pünktlichkeit, Disziplin und Autorität bedacht. So wurde der Jeckes zu einer festen Figur im israelisch-jüdischen Witz: ein komischer, unbeholfener Charakter, der mitten in der Wüste auf bürgerliche Etikette achtet und bei jedem Stein, den man beim Hausbau durch die Kette reicht, „Bitte schön! – Danke schön! – Bitte schön! – Danke schön!“ sagt.

„Jeckes“ präsentiert verschiedene, gegensätzliche Figuren – eine religiöse Fundamentalistin in Hebron, eine Freundin von Rabin, die nichts so haßt wie die Nationalreligiösen, einen erfolgreichen Unternehmer –, die freilich fast alle ihr Leben souverän gemeistert haben. Auch die Zwangsemigration ist nicht viel mehr als eine böse Erinnerung in einem geglückten Leben. Die Figuren leben offenbar ohne Sehnsucht nach und ohne nachhaltigen Groll auf Deutschland. Die Regisseure sind auf Anekdoten aus – was nicht paßt, bleibt blaß. Nur gelegentlich reißt der Abgrund auf. So erfährt man eher nebenher, daß Michael Smus einer der letzten Überlebenden des Aufstands im Warschauer Ghetto ist. Smus präsentiert eigene Gemälde, in denen er seine KZ- Erfahrungen reflektiert. Seine Frau bemerkt nebenbei, daß sie erst durch diese Bilder erfuhr, daß ihr Mann ein Survivor war. Die jungen deutschen Regisseure, die öfter als nötig im Bild sind, stochern im Smusschen Wohnzimmer im Käsekuchen, rühren im Kaffee, betrachten die Bilder und wissen nicht so recht, was man da sagen soll. Keine Pointen, keine Anekdoten in Aussicht. Es ist kein Zufall, daß im Film von Smus nur der diffuse Eindruck eines Verlierers bleibt. Und Verlierer stören den beschwingten Ton, den „Jeckes“ anschlägt.

Daß „Jeckes“ eine recht vitale Sache geworden ist, beruht auf einem geglückten Tausch zwischen Filmern und Gefilmten. Die Verständigung zwischen den jungen Deutschen und den alten Emigranten kommt in Gang, weil eine Projektion funktioniert. Die Jeckes, die ihr verlorenes Deuschland als Sprache, als Liebe zur deutschen Klassik, zu Goethe, Schiller und Schubert bewahrt haben, mögen in den beiden nice guys jene Enkel sehen, die sie nicht haben, weil ihre Kinder und Enkel hebräisch reden. Dieser Traditionsbruch – das Ende der Jeckes-Kultur – ist die offene Wunde, die Nazideutschland im Heute hinterläßt. Und die Filmemacher mögen in den Jeckes jene Großeltern sehen, die sie nicht hatten und nicht haben konnten: Großeltern, die gleichzeitig großbürgerliche Bildung, deutsche Tugenden und eine historische Unschuld verkörperten, die nach 1945 in Deutschland eine Rarität waren. Dieser Tausch ist der Subtext des Filmes: die Illusion einer heilen, ungebrochenen, unschuldigen Vergangenheit gegen die Illusion, daß eine Zukunft für die Jeckes- Kultur existiert.

Ohne historisches Bewußtsein

Diese Wahlverwandtschaft – im jeweils anderen repräsentiert sehen, was unmöglich und vernichtet ist – ist der Resonanzkörper des Films. Allerdings scheinen die beiden Regisseure, die sich naßforsch durch den Film plaudern, kaum zu wissen, in welchem Spiel sie sich befinden.

Die Folie von „Jeckes“ ist ein noch immer schwärender, ungelöster bundesrepublikanischer Generationenkonflikt. Die 68er, die Kinder der Tätergeneration, machten die Schuldfrage zu dem zentralen Kampfinstrument gegen ihre Eltern. Das fiel oft ungerecht, manchmal, wie in Bernward Vespers Romanfragment „Die Reise“ nachzulesen ist, selbstzerstörerisch aus. Ein Dialog zwischen den Generationen kam, obwohl immer wieder heftig eingeklagt, so gut wie nicht zustande. Unversöhnlich standen sich das beleidigte, störrische Schweigen der Eltern und die wütenden, oft selbstgerechten Anklagen der Kinder gegenüber. So blieb dieser Konflikt ungelöst. Daß die 68er sich oft in die Opferrolle halluzinierten, wie die Konjunktur von Namen wie Sarah und Rebekka bezeugte, war eher Symptom als Lösung dieses Zustandes.

Dieser (durchaus zwiespältige) Umgang der 68er mit der Schuld hat in den 90ern zusehends seine Hegemonie verloren – mit wiederum höchst fragwürdigen Ergebnissen. Die dokumentarische Hommage an Leni Riefenstahl „Die Macht der Bilder“ (1993) war ein Fanal in dieser Richtung: Schluß mit der Ausgrenzung der Tätergeneration, Schluß mit der Schuldfrage, die den Blick auf alles andere verstellt. Dort erschien Riefenstahl als Opfer, das büßen mußte, weil wir Schuldige brauchten. Das war die Brücke, um die verdächtige Großmutter in den Kreis der Enkel zurückzuholen.

Auch „Jeckes“ signalisiert, freilich indirekter, daß die Enkel der Tätergeneration Distanz zur Schuldfrage suchen, die man als lästigen Ballast empfindet.

Aber das hat seinen Preis. So plappert es im Off einmal aus einem der Macher, daß doch auch wir, die Deutschen, durch die Nazis einiges verloren hätten. Das mag sein, gehört aber nicht hierher. Als 30jähriger Deutscher in Israel in eine Art Opferkonkurrenz mit jüdischen Emigranten zu treten ist, gelinde gesagt, deplaziert.

Daß jede Generation ihren eigenen Zugang zur Historie finden muß, versteht sich von selbst: daß die 30jährigen von heute den Generationskrieg von 68 nicht noch einmal aufführen wollen, ebenso. In „Jeckes“ kann man freilich sehen, wohin die trotzige Ablehnung des Schulddiskurses führt – in das Paradox eines Geschichtsfilmes ohne historisches Bewußtsein.

Auf der Suche nach der Wahrheit

Die ostdeutsche Dokumentaristin Sibylle Schönemann, die mit der Stasi-Recherche „Verriegelte Zeit“ bekannt wurde, hat einen anderen Zugang zum Thema gewählt: eine historische Recherche, in der das Vernichtete reinszeniert werden soll. „Diese Tage in Terezin“ ist der Versuch, zu vergegenwärtigen, was der Kabarettist und Autor Karel Svenk, der 1945 von den Nazis ermordet wurde, im Lager Theresienstadt tat. Ein Lied von ihm ist überliefert: „Der Marsch von Theresienstadt“, ein Foto, nicht mehr, wie es scheint. Zeitzeugen erinnern sich vage an die Faszination, die Svenk ausstrahlte, und wissen nicht recht zu sagen, was dieses Faszinierende war. Svenk, so ahnt man, konnte die Menschen noch im Grauen zum Lachen bringen. Doch die Recherche kommt nicht recht vom Fleck; das Faszinosum, das der Film zu feiern entschlossen ist, bleibt eine Behauptung, Svenks Kontur unscharf.

Sibylle Schönemann hat sich zwei Co-Autorinnen gesucht, deren Biographien die erzählerische Hilfskonstruktion bilden, die diese Suche vitalisieren sollen. Lena Makarova, eine aus Rußland nach Israel ausgewanderte Schriftstellerin, recherchiert, was Künstler wie Svenk im Ghetto taten, und sagt: „Ich komme in die Todeslager, um mich mit meinem eigenen Tod zu beschäftigen.“ Viktoria Hanna Gabbay, Kind sephardischer, religiöser Israelis, ist Schauspielerin und versucht in Performances von Svenks Liedern ihren eigenen, von der staatsoffiziellen israelischen Gedenkkultur unverstellten Zugang zum Holocaust zu finden. Sie sagt: „Daß ich Schauspielerin wurde, hat mich von meinen Eltern entfernt. Hier in Europa, angesichts des Holocausts, habe ich

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zurück zu meinen jüdischen Wurzeln gefunden.“ So ist für beide die Auseinandersetzung mit dem Holocaust die Folie für eine Ich-Inszenierung, ein Vehikel für eine Identitätssuche: ein Ort, wo man die Frage nach dem eigenen Tod stellen oder an dem man den Zwiespalt der eigenen Existenz zwischen Beruf und Herkunft kitten kann.

Kein Mißverständnis: Es geht nicht darum, diese Aneignung zu „kritisieren“ (die nur auf dem Hintergrund der komplexen Bedeutungen des Holocaust für das israelische Kollektivbewußtsein zu begreifen ist). Der Mißton entsteht, weil Schönemann diese Haltungen zu ihren eigenen macht. Sie inszeniert diese beiden Figuren als bruchlose Beweise einer authentischen weiblichen Annäherung an den Schrecken. Dieser Versuch muß mißglücken. So sieht man Viktoria einmal auf Eisenbahngleisen auf einer Schreibmaschine tippen; dazu hört man einen Text von Svenk. Solchen Inszenierungen, die eine Gegenwart behaupten, die nicht zu haben ist, dienen vor allem der angestrengten Suche nach bedeutsamen Bildern. Im Off hört man später von der Regisseurin, daß das Verhältnis zu Viktoria, ihrer Heldin, manchmal vereiste: wenn Viktoria „in mir die Deutsche sah“. Man hört es, aber sieht es nicht. Denn der Film versäumt es, gerade das Interessante ins Bild zu bringen, den Konflikt – wohl weil dies den harmonischen Grundton, drei Frauen auf der Suche nach der Wahrheit der Historie, stören würde.

Auch „Diese Tage in Terezin“ konstruiert eine Wahlverwandtschaft, um die Geschichte zu bewältigen. „Jeckes“ wird von der Suche nach den unschuldigen Großeltern angetrieben, Sibylle Schönemann stehen zwei Schwestern mit lupenreinem Opferbackground zur Seite. Um politische Geschichte zu erzählen, erfindet man eine (pseudo-)familiäre Konstruktion.

Ein geglücktes Generationsverhältnis

Das Gegenmodell zu dieser, wohl unumgänglich verkrampften Methode zeigt „Nobody's Business“, in dem der amerikanische Jude Alan Berliner seinem Vater mit der Kamera auf den Leib rückt. Er fragt nach Verwandten, die im Holocaust umkamen, nach der Ehe, die scheiterte – und erntet nur Spott. Der Sohn besteht auf der Verwurzelung in Familiengeschichte – dem Vater ist gerade das wurscht. Diese Verkehrung gängiger Muster macht die Pointe von „Nobody's Business“ aus: Der Vater will von Traditionen nichts wissen, den Sohn interessiert es um so mehr. „Warum“, fragt der Vater Oscar unvermittelt, „hast du eigentlich nichts Anständiges gelernt, anstatt diesen dummen Film zu machen?“

Die Illusion des Familiären, die die Deutschen als Stützräder brauchen, ist hier eine Selbstverständlichkeit, die bohrende Neugierde des Sohnes Teil eines Spiels, das beide Kontrahenten beherrschen. „Nobody's Business“ ist ein Duell in Augenhöhe. Und eine Ahnung, wie jenes geglückte Generationsverhältnis aussieht, von dem der deutsche Dokumentarfilm nur träumen kann.

„Jeckes – Die entfernten Verwandten“. Regie: Jens Meurer, Carsten Hueck. Deutschland 1997, 98 Min.

„Diese Tage in Terezin“. Regie: Sibylle Schönemann. Deutschland 1997, 80 Min.

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