: Atomstrom drängt in den Westen
Neue „Baltic Ring“-Leitung ermöglicht die Lieferung aus dem Sowjet-AKW Ignalina in Litauen nach Polen, Deutschland und Skandinavien. Deutsche warten ab ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff
Atomstrom aus den altersschwachen Tschernobyl-Reaktoren von Ignalina nach Deutschland und Skandinavien: Diese neue Vermarktungsmöglichkeit, auf die man in Litauen schon lange gewartet hat, kann bereits im kommenden Jahr Wirklichkeit werden. „Baltic Ring“, eine zur Hälfte von der EU finanzierte Zusammenarbeit von 18 Stromproduzenten aus elf Ländern rund um die Ostsee – darunter auch der ostdeutsche Großversorger Veag und die PreussenElektra –, hat nach zweijähriger Arbeit eine Studie abgeschlossen, die kommende Woche in Lettlands Hauptstadt Riga vorgestellt werden soll. Der zentrale Vorschlag: eine Verknüpfung der Stromnetze zwischen Litauen und Polen. Die neue Leitung würde es dem AKW Ignalina erlauben, seine große Überkapazität an Atomstrom nach Polen, Skandinavien und Deutschland zu verkaufen.
Jan Nistad bestätigt die Gedankenspiele. Er ist der Chef von „SiP“, dem schwedischen Projekt für Kernkraftsicherheit in Osteuropa, und hält engen Kontakt mit Ignalina: „Man hat dort eine Überkapazität und wartet schon lange auf die Öffnung des Markts nach Westen.“ Auch in der deutschen Energiebranche sind die litauischen Pläne bekannt. Über das europäische Stromverbundnetz UCPTE und angesichts der Freigabe der nationalen Strommärkte könnte Litauen damit rechnen, seinen Atomstrom dann theoretisch in ganz Europa zu verkaufen.
Ein PreussenElektra-Sprecher dementierte auf Nachfrage jedes Interesse an einem Kauf litauischen Atomstroms. „Wir wollen keinen Strom von dort beziehen.“ Die Veag will erst die Konferenz in Riga abwarten, bevor sie sich äußert. Noch sei schließlich alles in der Planungsphase.
Victor Sevaldin, Chef des Ignalina-AKWs, schmiedet dagegen schon Pläne: Er hofft vor allem auf ein geplantes Unterwasserkabel zwischen Polen und Schweden, um Ersatzenergie für in den kommenden Jahren stillgelegte schwedische Reaktoren zu verkaufen. Klar ist, daß das AKW sicher einen Abnehmer finden könnte, wenn es den Strom billig produziert.
Der Ignalina-Chef macht gleichzeitig klar, daß der ursprüngliche Zeitplan für den Stopp der Ignalina-Reaktoren – zwischen 1999 und 2002 – nicht mehr aktuell sei: Die Reaktoren – mit einer Leistung von 1.500 Megawatt weltweit die größten – könnten mindestens bis ins Jahr 2004 gefahren werden. Als Grund für die plötzliche wundersame Verlängerung der Lebensdauer nennt Sevaldin die häufigen Stillstandszeiten wegen der vielen Zwischenfälle und Reparaturen und daß die Reaktoren schon seit Jahren mangels Absatzmarkt nur mit verminderter Leistung gefahren würden.
Im Zusammenhang mit 66 Millionen Mark Hilfe der Europäischen Investitionsbank für Sicherheitsmaßnahmen am AKW hatte sich Wilnius schon vor Jahren verpflichtet, Ignalina bis 2002 abzuschalten und in Ersatzenergiequellen zu investieren. Doch nichts ist passiert. Auch was die Sicherheit von Ignalina angeht, ist der Westen nun offenbar bereit, beide Augen zuzudrücken. Eigentlich sollten westliche Experten im Sommer 1998 eine Sicherheitsprüfung an beiden Reaktoren vornehmen. Doch haben die Vertreter aus den USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Finnland und Schweden gerade übereinstimmend empfohlen, einem Vorschlag der litauischen Atomsicherheitsbehörde zu folgen und diese Überprüfung um ein Jahr zu verschieben. Ein Sicherheitscheck zum jetzigen Zeitpunkt fiele vermutlich allzu katastrophal aus.
Unabhängige ExpertInnen kritisieren vor allem die mangelnde Brandsicherheit und fehlende Reservesysteme. Ein prinzipielles Problem, glauben Umweltschützer. „Vieles ist gar nicht nachzubessern“, sagt etwa Patricia Lorenz von Global 2000 aus Wien, die Reaktortechnik in Ost und West sei einfach zu unterschiedlich. Selbst der PreussenElektra-Chef Hans- Dieter Harig möchte den Reaktor möglichst schnell abschalten.
Wie schlecht das Managment in Ignalina arbeitet, zeigt die Verhaftung einer Bande von Uranschmugglern durch die litauische Polizei am Montag. Die Beamten fanden 30 Kilo Uran aus Ignalina- Brennstäben. Nicht zum ersten mal flogen damit Uranschmuggeleien aus dem AKW auf.
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