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Im Winter, wenn die Kreter schlafen

In den gar nicht kalten Wintermonaten auf Kreta ist die Touristeninsel besonders beschaulich und übersichtlich  ■ Von Christian Heinz

Es ist ruhig in diesen Tagen auf Kreta. Die größte griechische Insel hat ihr steiniges Gewand abgelegt und zeigt sich nach den wenigen Regentagen des Herbstes im fruchtbarem Grün. Die zahlreichen Urlauber aus aller Welt sind wie die tägliche Hitze schon Vergangenheit. Sie werden erst im nächsten Frühjahr wiederkommen und bis in den Spätsommer Strände, Sehenswürdigkeiten und Cafés zu Hunderttausenden bevölkern. Längst sind auch die auswärtigen Saisonarbeiter zu ihren Familien zurückgekehrt. Die Kreter sind mehr oder weniger unter sich, und das Leben auf den Dörfern, Häfen und Plätzen nimmt wieder seinen Gang wie zuvor nur auf der entlegenen Hochebene.

Die Kreter, so sagen sie von sich selbst, arbeiten während der Urlaubssaison und schlafen dafür den ganzen Winter. Dabei kann von Winter in den letzten beiden Monaten des Jahres gar keine Rede sein, denn bei 19 Grad Durchschnittstemperatur und acht Regentagen pro Monat ist selbst das Baden im tiefklaren Meer noch möglich. Und von Schlafen auch nicht. Zuviel ist zu tun: Die Familie steht nun wieder an erster Stelle, die fruchttragenden Olivenbäume müssen per Hand abgeerntet werden, und das Nationalgetränk Raki – für die Kreter kein ordinärer Tresterschnaps, sondern eher Medizin – wird für das kommende Jahr gebrannt.

Kreta hat durch seine strategisch günstige Lage vor dem Festland schon seit jeher eine besondere Stellung, und die minoische Kultur auf Kreta (3500–1450 v.Chr.) gilt als die erste Hochkultur Europas. Das friedliebende minoische Volk fertigte vollendete Kunstwerke, widmete sich dem Theater und stand wirtschaftlich durch die Kontrolle des Seehandels im östlichen Mittelmeer auf goldenen Füßen. Die Heiligtümer, Kultbezirke, Wohnhäuser und Werkstätten des sagenumwobenen Knossós sind zu dieser Jahreszeit ohne den sonst vorherrschenden Menschentrubel zu besichtigen. Auch beim Besuch der zahlreichen byzantinischen Kirchen, venezianischen Festungen und türkischen Minarette ist Zeit, selbst die kleinsten Winkel zu entdecken. Und es ist Zeit, stundenlang im Kafenion zu sitzen und sich auf ein Gespräch mit der dort versammelten Männerwelt einzulassen. So erfahren die Wanderer aus Deutschland vom Selbstverständnis der Kreter, als die Gruppe zur Mittagszeit in einem verschlafenen Kafenion einkehren.

Nach anfänglich stummen Blicken fragt einer der Einheimischen neugierig, woher Sie den kommen. Nach mehrerem Nachfragen wissen interessierten Kreter, daß die deutschen Wanderer von einem Kontinent namens Europa nach Kreta gereist sind.

Da einer der Ortsansässigen nicht weiß, was „Kontinent“ bedeutet, versuchte ein Älterer ihm zu erklären: „Die Erde ist aufgeteilt in fünf Kontinente: Europa, Asien, Amerika, Afrika und... Kreta.“ Einige der anderen verbessern: „Kreta ist nicht der fünfte Kontinent, sondern Australien!“ Der Ältere zögert und belehrt dann mit einer abschätzigen Handbewegung: „Ach, Australien, das ist doch nur eine Insel...“ Christian Heinz

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