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Nahe dem himmlischen Throne

Im Königreich Kommagene. Eine Reise durch Kurdistan zum achten Wunder der Welt, dem Berg Nemrut Dagi. Im kurdischen Südosten der Türkei, wo Legenden von König Antiochos und dessen Unabhängigkeit kursieren  ■ Von Gerd Schumann

Während sich unser Fahrer immer neue Sender im Radio erkurbelt und arabeske Herz-Schmerz-Schlager in Selbstmord, Mord oder Totschlag ihre dramatischen Lösungen finden, zerknallt vorne eine Fensterscheibe in tausend Teile. Anderthalb Stunden dauert es, bis eine provisorisch befestigte Plastikfolie die Weiterfahrt erlaubt.

Jetzt begleiten uns am Horizont linker Hand die im Sonnengegenlicht schwarzen Umrisse der Taurosgebirgskette, rechts dehnt sich unübersehbar weit die Wasserfläche des Atatürk-Stausees gen Syrien. Auf schier endlos staubigen Straßen rumpelt unser Minibus in Richtung des längst versunkenen antiken Königreichs Kommagene. Sein in Stein gehauener Mythos zieht bis heute Hunderttausende in den Bann – Touristen und Einheimische.

Unser kurdischer Begleiter beugt sich herüber und flüstert unvermittelt, daß drüben in den Bergen vor nicht allzu langer Zeit 16 Guerilleros der PKK verbrannt worden seien. „Verbrannt?“ – „Ja, mit Napalm aus Armeeflugzeugen.“ Die Opfer seien alle aus der Gegend gewesen. Es wird gemunkelt, daß aus so ziemlich jeder größeren kurdischen Stadt Hunderte oder gar Tausende junger Frauen und Männer „in die Berge gegangen“ seien – blumige Umschreibung für den lebensgefährlichen Beitritt zur PKK-geführten „Nationalen Befreiungsarmee Kurdistan“.

Bereits zu Moltkes Zeiten diente die Region Kommagene als militärisches Aufmarschgebiet. Die türkische Tauros-Armee stand dort 1838 zum Einsatz zunächst gegen einige aufmüpfige Kurdenführer bereit und dann vor allem gegen den abtrünnigen Statthalter von Ägypten. Helmut von Moltke, der deutsche Graf und Hauptmann, der es später zum Generalfeldmarschall bringen sollte, hatte als kolonialer „Kriegsberater“ der Hohen Pforte penibel und mit preußischer Gründlichkeit kartographisches Material angefertigt. Als Fixpunkt in den Ebenen südlich des Tauros nutzte er die weithin sichtbare Spitze des Berges Nemrut – eine künstlich angelegte kegelförmige Kuppe, Berg auf dem Berge, Tumulus „in der Nähe der himmlischen Throne“, wie Bauherr König Antiochos I. (69–34 v.Chr.) poetisch und programmatisch zugleich sein eigenes Grabmal lokalisierte.

Am Fuße des Schotterbergs erhebt sich auf der Ostterasse der Anlage eine fest auf mächtigen Sockeln verankerte monumentale Sitzgruppe, Zeus und Herakles darunter, aber auch König Antiochos selbst, zum Gott avancierter Erdling, den „himmlischen Thronen“ nahe – so Zeile 37 einer in fünf Zentimeter hohen griechischen Buchstaben eingemeißelten Inschrift auf der Rückseite. Der griechischen Mythologie entnommen, tragen die Steinkolosse doch allesamt persische Gewänder und ebensolche hohen Kopfbedeckungen. Das unabhängige Kommagene schuf in der späthellenistischen Untergangsphase im Kräftefeld zwischen Nord und Süd eine eigene Kultur als Brücke zwischen den Kulturen. Bald allerdings köpften Mensch und Witterung die Statuen.

Am Abend erreicht der Bus Kahta, eine Kleinstadt, 70 km von dem Götterberg entfernt. Der Muezzin hat längst zum Nachtgebet gerufen. Die Zeit der Geschichtenerzähler bricht an, und der Sänger Mahmut bringt eine uralte Legende zu Gehör. Sie handelt vom ewigen Konflikt Kurdistans mit fremden Herrschaften, vom Türken Kürr Hasan Pascha, der ein Auge auf die Kurdin Xezal geworfen hatte. Doch die war ihrerseits mit Tahir Aga verlobt, und also blieb dem Türken nur ein Weg, um an sein Ziel zu gelangen: Er führte Krieg. Das kurdische Epos „Tahir Aga“ aus dem 16. Jahrhundert geht zunächst gut aus. Der türkische Angreifer unterliegt, Xezal bekommt ihren Verlobten, und die kurdischen Fürstentümer bleiben unabhängig, Puffer zwischen den Großmächten.

Die dengbejs, stranbejs und cirokbejs – Barden, Sänger, Erzähler – gaben die Geschichte aus der Geschichte von Generation zu Generation weiter – wie an diesem Abend in der kleinen Stadt der Sänger Mahmut. Nur erwischen lassen darf er sich nicht. Wegen anhaltender Ächtung der kurdischen Sprache, nicht nur in Schulen und im Leben von Behörden und Armee und öffentlichen Einrichtungen, sei es schwierig, die Lieder zu verlegen, berichtet er. „Also habe ich – neben den regulären – auch drei Musikkassetten für den Schwarzmarkt produziert. Das ist natürlich gefährlich. Wenn ich auf der Straße laufe, muß ich mich vorsehen. Ich gehe nie in der Mitte, sondern immer am Rand, weil ich Angst vor einem Überfall habe oder davor, daß mich jemand überfährt.“

In Kahta gibt es ein „Turizm“- Gebäude, die Kinder an den Straßenrändern laufen in Hoffnung auf einen Geldschein neben Touristen her. Unten am Atatürk-Stausee liegen in schwimmende Restaurants umgebaute Hausboote: „Beyaz Marti“ (Weiße Möwe) und „Sahil Kent“ (Stadt am Wasser). Die rostige Fähre scheint dagegen außer Betrieb zu sein. Die Hotels der Stadt tragen Namen wie „Nemrut Tur“, „Zeus“, „Mezopotamiya“ und natürlich „Kommagene“. Frühmorgens drängen sich an den Schaltern des „Autobüs Terminali“ bärtige Männer, in gebührendem Abstand hinter sich ihre verhüllten Frauen. Wir fahren weiter in Richtung Nemrut Dagi. Vorbei zunächst an den eisernen Skeletten etlicher Ölfördertürme schlängelt sich die ockerbraune Piste hinter Kahta recht bald in eine Hügellandschaft, und plötzlich, 10 km hinter der Stadt, ragen zwei Säulen wie überdimensionale Zeigefinger aus dem Boden, eine von einem verwitterten Tier gekrönt, nach dem die gesamte Anlage benannt ist: „Karakus“, der Adler, Grabhügel für König Mithridates Mutter, Schwester und deren Tochter aus Kommagenes Blütezeit.

Über Schotter aus Granit, Basalt, Quarzit und Kalk rutschen wir den steilen Hügel hinauf mit beiden Händen im Boden Halt suchend. 1967 gelang es einer Archäologengruppe unter mindestens ebensolchen Anstrengungen, die Grabkammern innerhalb des Tumulus anzubohren, doch fanden sie nichts als gähnende Leere. Der deutsche Archäologe Friedrich Karl Dörner, selbst Teilnehmer der Expedition, vermutete daraufhin, Grabräuber hätten „bereits gründliche, allzu gründliche Arbeit geleistet“ und sämtliches Inventar inklusive einiger kostbarer dolomitischer Quader ausgeräumt.

Lange wurde gerätselt, wer wohl die sogar an Steinmaterial interessierten Übeltäter gewesen sein mochten. Dörner dachte an die Römer: „Alles spricht dafür, daß hier die XVI., in Samosata stationierte Legion am Werk gewesen ist.“ 10 km hinter Karakus liegt die großartige, von Römern erbaute Brücke über den Fluß Chabinas.

Eine technische Meisterleistung aus dem 2. Jahrhundert nach Christi, während die kläglichen Überreste eines aktuellen Versuchs, direkt neben der „Cendere Köprüsü“ ein breiteres Pendant zu errichten, langsam im Treibsand der Uferböschung versinken.

Jetzt zeichnet sich die dunkle Silhouette eines hageren Mannes auf der Brücke ab. Unser Taxifahrer trägt Schwarz von Bart bis Fuß. Seine knöcherne Gestalt scheint dadurch noch schmaler. „Dort drüben lag mein Dorf“, erläutert der Schwarzgekleidete. Sein ausgestreckter Arm weist über den See unterhalb des noch leicht schneebedeckten Nemrut Dagi nach Süden. Weit hinten habe Samsanota gelegen, das spätere Samsat. Kommagenes Hauptstadt befand sich am Oberlauf des Bibelstromes, war eine wohlhabende Metropole mit aufregender Akropolis. In einem Dorf in der Nähe lebte unser Taxifahrer bis vor sieben Jahren als Bauer. Er sah noch, wie seine Felder und auch Samsat in den Fluten des Stausees versanken und mit ihnen manche archäologische Kostbarkeit, Schrifttafeln darunter, die noch von tausendundeiner Geschichte aus dem weitgehend unerforschten Königreich Kommagene hätten berichten können.

Kommagene, zunächst seit 708 v. Chr. neuassyrisch beherrscht, wurde ab dem 3. Jahrhundert unter einer einheimischen Dynastie selbständig, und blieb es auch zunächst. Unter Antiochos I. wurde sogar die römische Invasion des Lukullus zurückgeschlagen, und Pompeius schloß einen Friedensvertrag. Zur römischen Kolonie wurde das Königreich im ersten Jahrhundert unserer Zeit und verschwand als selbständige Einheit nach knapp 300jähriger Existenz im Nirgendwo der Geschichte.

Legenden von Antiochos und dessen Unabhängigkeit kursierten indes weiter, besonders heute angesichts türkischen Ausnahmerechts werden im wild-zerklüfteten kurdischen Südosten der Türkei gern historische Parallelen zu 1639 gezogen, als Kurdistan zwischen Osmanischem und Persischem Reich aufgeteilt wurde. In Kahta und Umgebung schwärmt so mancher immer noch von der Pracht und Hochkultur der kurdischen Fürstentümer Ardelan, Bitlis, Botan und Chemdenan. Geschichten aus besseren Tagen wirken im seit 1923 auf vier Staaten verteilten kurdischen Siedlungsraum ebenso identitätsstiftend wie die trotz vielfältiger Assimilierungstendenzen immer noch äußerst lebendige kurdische Kultur.

Eigentlich hätte der Taxifahrer schon vor Jahren südlich der zweihundert Kilometer entfernten Großstadt Gazi Antep einen Ersatz für sein versunkenes Eigentum erhalten sollen. Doch läßt sich die türkische Regierung Zeit, und so mancher, der die niedrige Abfindung für sein Land in Bargeld akzeptierte, ist mittlerweile pleite und arbeitslos und hängt in Kahta oder in der Kreisstadt Adiyaman fest. Die Leute hatten ihr Glück mit kleinen Geschäften und Betriebsgründungen gesucht – doch wer sollte die Waren kaufen, nachdem sich so viele ehemalige Käufer in Verkäufer verwandelt hatten? Bei immer mehr Läden für immer weniger Kunden gerieten selbst erfahrene, alteingesessene Geschäftsleute zunehmend in Schwierigkeiten.

Viele Kahtaler ernährt heute der umstrittene Fremdenverkehr. Hier finden so ziemlich alle touristischen Unternehmungen in Richtung des Kommagene-Naturschutzparks ihren Ausgang. 75.000 Besucher wurden vor einem Jahr gezählt – Tendenz steigend. Allerdings, so ein Sachkenner, hintertreibe die türkische Regierung lokale Anstrengungen zur Werbung sowie zum Ausbau der Infrastruktur.

Und in Europa werde seitens der PKK und anderer ein Boykott proklamiert, der zwar für die meisten Gegenden der Türkei vollkommen berechtigt sei, weil der Staat mit den Einnahmen tatsächlich seinen „schmutzigen Krieg“ gegen die Bevölkerung führe, doch könnten im Gegensatz zu Küstenorten oder den Großstädten des türkischen Nordwestens die Gäste Kommagenes schon während der Anreise beobachten, wie aggressiv die türkische Armee agiere und daß Dörfer zerstört worden seien. Zudem kämen die Einnahmen der Bevölkerung zugute, sagt der Fachmann. Ob er allerdings mit seiner Argumentation lediglich die vielfach tourismuskritischen Wanderer auf den Spuren des Altertums ködern will, läßt sich in Kahta, wo selbst die Wände Ohren haben sollen, nicht richtig ausdiskutieren.

Kommagene bedeutet übersetzt „Ort für alle“. Das ist er heute nicht mehr. Dabei hatte König Antiochos einst große Pläne gehabt. Zweimal im Monat sollten droben auf dem Nemrut Dagi opulente Festmahle anläßlich seines Geburts- und Krönungstages gefeiert werden, so daß alle zu den beiden Gipfelterrassen hinaufpilgernden Besucher „von den in strahlender Sonne glühenden Ahnenreliefs aus grünlichem Sandstein, die durch ihre Politur selbst wie kleine strahlende Sonnen gewirkt haben dürften, aufs tiefste“ (Dörner) hätten beeindruckt sein müssen. Allerdings wähnte der König sein Reich fälschlicherweise dauerhaft in Sicherheit und zum Feiern wohlpräpariert: Als er starb, hinterließ er einen großen Staatsschatz. Doch zum Gott erhoben hatte er die irdische Macht Roms unterschätzt. Seitdem sollten Kommagene noch viele Herrscher bevorstehen, unter denen es nichts mehr zu feiern gab.

Auch die Götter wechselten. Trotzdem wurde ihr Berg samt Aufbauten als „achtes Weltwunder“ geadelt, und 1987 erklärte ihn die Unesco zum Weltkulturerbe, damit die alten Gottheiten für ewig auf dem Nemrut Dagi existieren.

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