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■ SchlaglochErledigen wir uns selbst Von Nadja Klinger

„Verkraftet die Stadt ein Gelöbnis am 13.August?“ Schlagzeile in der „Berliner Zeitung“, 21.Januar 1998

Seit ich Zeitung lese, vermag ich mir Fragen zu stellen, die ich mir ansonsten nie stellen würde. Man könnte das auch als eine Art Begabung des erwachsenen Menschen bezeichnen, die Informationen ernst zu nehmen – so lange, bis sie sich selbst erledigen.

Also sehe ich im Kalender nach. Der 13.August fällt in diesem Jahr mitten in die Berliner Schulferien, auf einen Donnerstag. Ich werde nicht in Berlin sein, viele andere wohl auch nicht. Wie Gardinen aus Staub wird die Hitze wieder in den Straßen hängen, kein Tourist wird diese Baustelle besuchen, und die BVG wird sich über jede Großveranstaltung freuen, sofern die Teilnehmer ein Stück U- oder S-Bahn fahren. Wer mit dem Auto zuschauen kommt, wird sogar einen Parkplatz finden. Und gerade für die Fremden, die sich doch in die Stadt verirren werden, sind Großveranstaltungen schließlich inszeniert. Selbst wenn mir jetzt noch irgend etwas einfallen würde, was die Stadt nicht verkraften könnte: Die Idee, Bundeswehrsoldaten an diesem Tag vor dem Roten Rathaus ihr Gelöbnis abzunehmen, ist keine, über deren Verwirklichung sich noch entscheiden ließe – sie ist die Wirklichkeit selbst.

In den Nachrichten, die den Schlagzeilen folgen, erkenne ich sie sofort wieder, indem ich mich mitten in das Wortgefecht hineinbegebe und fortan unablässig die Seiten wechsle. Ich bewege mich von „Der 13.8. muß ein Höhepunkt werden, weil er einst ein Tiefpunkt für deutsche Soldaten war“ (Landowski, CDU) über „Genau der richtige Tag, um für die wehrhafte Demokratie zu werben“ (Diepgen, CDU) zu „Es wird deutlich, diese Schandmauer ist geistig-moralisch überwunden“ (Schönbohm, CDU), weiter zu „Das ist ein Mittel der CDU, um den Sieg des Systems zu demonstrieren“ (Wolf, PDS) und „Es geht in dieser Debatte nicht um Entscheidungen, wir wollen aber an diesem gesellschaftlich relevanten Punkt ein Symbol für Rot- Grün setzen“ (SPD). Jedoch genau in der Mitte, in dem Punkt, um den ich mich mit all den Argumenten beständig drumherum bewege, liegt das Problem. Es hat keinen Namen und ist lediglich daran zu erkennen, daß niemand es im Vorbeiziehen auch nur berührt.

In nahezu allen Debatten, die um deutsche Geschichte geführt werden, kann ich deutsche Geschichte nur finden, indem ich die öffentliche Auseinandersetzung kreisen lasse und mich derweil ins Zentrum begebe. Während sich um mich herum die Redner mit bewegenden Symbolen gegenseitig auf Trab halten, wird mir in aller Ruhe der unverklärte Blick auf den eigentlichen Diskussionsgegenstand möglich. So sehe ich Berlin, das trotz aller symbolischen Daten, die dagegen vorzubringen sind, noch immer eine Mauer hat. Eine Stadt, an der der krasse Unterschied zwischen Ost und West das einzig Interessante ist, was sie dafür aber in der Welt unvergleichlich macht; wofür allerdings noch keiner Partei ein angemessenes Konzept eingefallen ist. Ganz im Gegenteil: Die geschichtsträchtige Stadt soll eine moderne Hauptstadt sein. Das ist zum einen unmöglich, zum anderen nicht wünschenswert. Würde der Bundestag schon in Berlin sitzen, hätte man auch hier Manfred Roeder nicht vor dem Bundeswehr-Untersuchungsausschuß aussagen lassen, um ihm kein „Forum“ zu bieten. Bonn, die alte westdeutsche Regierungsstadt, kann sich so etwas anscheinend leisten. Warum sich das neue Deutschland allerdings eine Hauptstadt kreiert hat, die einerseits auf der Höhe der Zeit ist, andererseits einem Neonazi durchaus ein Forum sein könnte, würde in der Welt wohl niemand begreifen. Und wenn der verteidigungspolitische Sprecher der SPD auch hier seine Hoffnung ausgedrückt hätte, daß die Medien den Mann ignorieren, sollte er die Verhandlung vor dem Ausschuß als Zuschauer besuchen, wäre es vom modernen und gleichzeitig geschichtsträchtigen Berlin aus um die Welt gegangen, daß die Deutschen sich selbst nicht trauen.

Begebe ich mich in eine andere Geschichtsdebatte, passiert dasselbe: Ich sehe die Deutschen, mit denen der Holocaust an den Juden Europas möglich war. Zwar kennen sie ihre Geschichte – aus Interesse, aus Betroffenheit, zwangsweise –, doch sie denken geschichtslos. Bis heute sind sie nicht von dem losgekommen, was war. Denn dann hätten sie sich zunächst zu dem verhalten müssen, wovon sie sich schließlich verabschieden wollen. Nicht einmal in der jüngsten Vergangenheit haben die West- und Ostdeutschen gezeigt, daß sie das können. In den Köpfen ist überhaupt kein Platz, um Neues zu denken.

Auch die politische Debatte, wie das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas aussehen soll, dreht sich im Kreis. Der Wettbewerb zwischen internationalen Künstlern um die beste Idee zieht sich und zieht sich, und die Deutschen wissen nicht so recht, ob das Mahnmal Worte braucht oder nur eine Form, ob man im Stand drüber hinwegsehen können muß, ob der Besucher sich darin verirren sollte, ob er dabei denken darf, was er will und wie groß die Gefahr ist, daß er, was auch immer, Falsches denkt. „Wir wollten einen Ort kreieren, der die Empfindung von Raum und Zeit verändert, die Empfindung des eigenen Körpers gegenüber der Umgebung“, sagte vor Tagen Richard Serra über den Entwurf, den er zusammen mit Peter Eisenmann vorgelegt hat. Die Debatte in Berlin erörtert die Frage, ob dieser Entwurf in 100 Jahren nicht mißverstanden wird. Vorbei an dem Problem, wie wir Deutschen, die wir vermutlich das Forum für den Neonazi Roeder sind, denn heute die Botschaft entschlüsseln sollen?

Und weil wir die Debatte nicht verstehen, verstehen wir auch die Welt nicht mehr. Mit Unverständnis berichten die Zeitungen davon, daß Ignatz Bubis gesagt hat, er werde das Holocaust-Mahnmal nicht besuchen. Wir wollen von prominenten Juden wissen, was sie von dem Denkmal erwarten.

Daß ein Mahnmal Erinnerungsarbeit nicht ersetzen kann, stellt es als Kunststätte nicht in Frage. Und wenn es symbolisieren würde, wie der Holocaust durch die Köpfe der deutschen Nachkriegsgenerationen gegangen ist und geht, dann könnte es gleichzeitig der einzige Ort in Deutschland werden, an dem das Denken losgelöst ist von uns selbst, vom Hier und Heute. Diese Symbolik allerdings könnten nur Künstler ausdrücken, die in diesem Land leben. Und die wiederum müßten der öffentlichen Debatte in Deutschland voraus sein, indem sie sich die Frage, ob das Gelände Vandalismus anziehen wird, gar nicht erst stellen, weil auf diese Frage nur die Antworten folgen, die wir schon kennen.

Was wir noch nicht kennen, werden wir einfachen Zeitungsleser nur erfahren, indem wir jegliche Informationen, die uns erreichen, sich auf besagte Art selbst erledigen lassen. Folgen wir den deutschen Geschichtsdebatten sowie der Kunst, die in diesem Land Vergangenheit symbolisiert, und stellen uns dann eine Frage, die wir uns ansonsten nie gestellt hätten: Verträgt ein Deutscher die „Comedian Harmonists“?

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