Pudding in Schichttorte

51 Jahre lang war die „Zeit“ eine Institution. Nun muß sie eine Zeitung werden  ■ Von Lutz Meier

Was machen mit so einem Blatt? Ernst beugen sich die Redakteure Thomas Brackvogel, Margit Gerste und Haug von Kuehnheim an der Seite von Chefredakteur Roger de Weck mit dem amerikanischen Zeitungsdesign-Guru Mario Garcia über die ersten Seitenabzüge der neuen Zeit, drei Tage bevor sie heute an die Kioske kommt. Hier ist eine Unterzeile noch zu groß. Dort eine Graphik zu hell. Aber hier, „this is made with viel Liebe“, sagt Roger de Weck, der überhaupt das Liebevolle sehr mag, zu Garcia, „I like that“. Und dort fehlt noch ein Seitentitel: „Spielwiese“? „Mischmasch“? Oder lieber „Mittelpunkt“?

Alles fängt mit Äußerlichkeiten an. Mario Garcia hat hochkant stehende Weißräume erfunden, die sich mal links, mal rechts neben die Artikel schieben und die Kolumnen fast tanzen lassen. Man sieht es erst auf den zweiten Blick. Denn Brachialmodernisierer Garcia scheint sich bei der Fassade zurückgenommen zu haben, um dafür tiefer im Gebälk zu hantieren. Wenn man ihm sagt, er sei ja mit den Herren recht sanft umgesprungen, funkelt er einen fast beleidigt an: „It's a revolution!“

In der neuen Zeit gibt es keine Linie mehr

Beispielsweise gibt es keine Linien mehr in seinem neuen Layout. „Darin drückt sich auch aus, daß wir zum Glück keine Einheitslinie haben“, erklärt Chefredakteur de Weck, der seit viereinhalb Monaten für die Linie der Zeitung zuständig ist. „Jetzt ist alles ins Schwimmen geraten.“

Gesellschaftspolitisch meint er, nicht bei der Zeit. Ansonsten gerät das hier manchmal durcheinander, die Zeit und die Zeiten. Es gehe um „den überfälligen Umbau so vieler Strukturen“. „Reformen“, sagt er immer wieder, das sei das Thema der neuen Zeit, „Offenheit für Reformen“. Er hat sogar eine kleine „Reformwerkstatt“ im Blatt gegründet, die überall nach modelltauglichen Reformen suchen soll.

De Weck beschreibt die Formen und meint die Inhalte zu beschreiben. Die institutionellen Hüllen, so skizziert er das politische Dilemma, sie seien alle geblieben, obwohl sich sonst alles geändert habe. Doch auch die Zeit ist so eine Hülle. „Reform“, ruft de Weck. Aber rufen das nicht auch Herr Markwort und Herr Aust und Herr Funk und Herr Schröder und Herr Kohl?

De Weck wehrt den Verdacht ab, er rede einer Erneuerung ohne Ziel das Wort: Direkte Demokratie oder die Schaffung internationaler Strukturen zur Zähmung des Kapitalismus, das seien Ziele. Der Chefredakteur weiß, daß ihm intern vorgeworfen wird, seine Erneuerungsrhetorik verdecke die Ratlosigkeit über die Inhalte. „Er ist wie ein Fisch“, heißt es in der Redaktion, und: „Er ist wie ein Pudding.“

Der Chefredakteur hat geschmeidige Bewegungen und die Gelassenheit eines Menschen, der seiner Welt nicht bis ins letzte seine Ordnung geben muß. Wenn er etwas erklärt, streckt er den linken Arm in die Luft und reibt sacht Finger und Daumen gegeneinander, als gelte es etwas zu erspüren oder zu begreifen, was ihm selbst auch noch nicht benennbar ist. Aber bald wird's schon jeder begriffen haben.

Mit der neuen Redaktionsspitze, mit Politikchef Joachim Fritz-Vanahahme und Redaktionsdirektor Matthias Naß hat de Weck, selber 44, das Regiment der Mittvierziger in der Zeit perfekt gemacht. Die 68er-Verdächtigen, wie de Wecks Vorgänger Robert Leicht oder der von ihm entmachtete Politikchef Werner A. Perger, haben ausgedient. Einige befürchteten gar den neoliberalen Durchmarsch, so wie beim Zürcher Tages-Anzeiger, wo de Weck nach langen Zeit-Jahren ein Intermezzo als Chefredakteur hatte und mehrere kritische Jungredakteure das Weite suchten. Doch hier will der Redaktionsleiter, daß milde Großfamilienharmonie zwischen den Zeit-Generationen herrscht. Im Schweizer Fribourg, erzählt de Weck, wo er aufwuchs, „leben die Generationen ganz eng beieinander“. Und so solle es auch in der Zeit sein. Das meint auch Theo Sommer, der will, „daß man die Schichttorte der Generationen zusammenhält“. Über allem thront die greise Patronage der Herausgeber.

Es ist „menschlich unheimlich herzlich“

Jeder weiß, daß deren Regiment bespöttelt wird, aber für de Weck haben alle ihren Platz: „Die Gräfin“ Marion Dönhoff, die wissen ließ, daß es ihr graust vor der Layoutreform, und auch Helmut Schmidt mit seinen Leitartikeldirektiven.

Eine der jungen RedakteurInnen sitzt in einer der Büroschachteln auf einem der langen Flure und sagt, daß man anfangs vielleicht noch nicht ganz ernst genommen werde in den vielen Konferenzen. Trotzdem findet sie den seltsamen Comment, der herrscht, „menschlich unheimlich herzlich“.

Die Verhaltensregeln scheinen einem britischen Herrenclub abgeschaut, der längst auch Damen aufnimmt. Ältere Herrschaften, die sich beim Vornamen nennend siezen, fallen einander freundlich ins Wort. „Das haben wir über Nixon nicht geschrieben“ – „Müssen wir Clintons Rücktritt fordern?“ – „Ob die Zeit die erste Zeitung sein soll, die den Rücktritt fordert?“ „Ooh, das ist der Führer der westlichen Welt!“ – „Schwächen wir damit nicht die Autorität des Amtes?“

Es ist noch immer der hohe Ton der Gewißheit von der Teilhabe an Macht, in der die Politikkonferenz das Thema wägt. Das Problem der Zeit besteht darin, daß ihre Autorität immer schwächer wird. Die Auflage ist in den letzten Jahren behende von einer halben Million um 50.000 abgebröckelt – noch dramatischer sanken die Anzeigenbuchungen. Daß es inzwischen wieder bergauf geht, ist wohl mehr den Drückerqualitäten des Holtzbrinck-Konzerns zu verdanken, der die ehedem unabhängige Zeit 1995 kaufte. Doch schlimmer als der Auflagenverlust ist der Bedeutungsverlust. Immer weniger bewirken die Leitartikel etwas in der Welt da draußen.

Doch nun rollt die Revolution. De Weck hat kürzere Leitartikel verordnet und neben großen Lettern kühne Fotos auf die Seite 1 gehievt. „Die Seite 1 ist geknackt“, wundert sich Altredakteurin Nina Grunenberg, „die Grabplatte ist weg.“ Folgt Totentanz? Reanimation? Wiedergeburt? Oder Madenfraß? Wenn die Zeit-Redakteure sich dieser Tage „liebevoll“ (de Weck) von der restlichen Presse beäugt sehen, wähnen sie sich privilegiert gegenüber den Kollegen. „Wenn wir wegbrechen, dann haben sie gar keinen Halt mehr“, bestärkt Herausgeber Theo Sommer, 67, die Redaktion.

Im Feuilleton, wo vor Monaten noch Krieg herrschte, sind Büros ausgeräumt, über den Namensschildern gilben Zeitungsschnipselwitze. Es ist leer. Was, wie Sigrid Löffler gleich zweimal betont, aber nicht ihre Schuld sei, sondern die der Pensionsgrenze – wenn es paßt, gilt die nämlich auch bei der Zeit. Die Ressortchefin sitzt in der Ecke und strahlt „Sieg“ aus. Nun will sie alles umarmen, den Planeten Speersort wie den Planeten Erde: „Die ganze Welt ist unser Thema“, erklärt Frau Löffler ihr Feuilleton. Nun endlich werde „die Popmoderne“ einziehen, in alle Genres, nun sollen sich „die Redakteure wieder als Journalisten verstehen, nicht als Autoren“.

Theo Sommer sieht die Veränderungen pragmatisch: „Wenn die Stimme der Vernunft gehört werden will, muß sie ein bißchen lauter geäußert werden.“ Also der Inhalt bleibt, und nur die Form verändert sich? Es sei eben so eine Zeit, sagt Sommer, „da zappt man sich hin und zappt sich wieder weg“. Neue Computer sind nun bis in die letzte Redaktionsstube vorgedrungen, wo es aber weithin Usus bleibt, die Aufsätze handschriftlich zu verfertigen und dann der Sekretärin zu reichen. Sommer sorgt sich, ein Jungschreiber ohne Computerkenntnisse hätte bald keine Chance mehr bei der Zeit.

Der Verleger schickt Controller, nicht Briefe

Sommer erzählt von den Tagen mit Verleger Gerd Bucerius, von der „Hamburger Kumpanei“ aus Stern, Zeit und Spiegel, die alle hier am Speersort residierten. Nun schreibt kein Verleger mehr donnerstags längliche Briefe, sondern Konzernchef Dieter von Holtzbrinck schaut alle sechs Wochen einmal vorbei. Dafür gibt es ein Controlling. Es waren die Tage, als die Zeit „Das Weltblatt aus Deutschland“ auf den Titelkopf druckte.

Doch es brach eine Presserevolution herein. Der Spiegel hat das Sturmgeschütz verlassen müssen. Der Stern hat die Wundertüte platzen lassen. Nur die Zeit blieb, als sei nichts passiert, als brauche es noch Institutionen am Kiosk.

Es braucht sie, glaubt Zeit- Recke Sommer, „aber sie müssen sich wandeln“. „Es ist gefährlich“, sagt Roger de Weck, „wenn man zur Institution erstarrt.“ Er wolle „das journalistische Prinzip“ nach vorn stellen, aber vielleicht könne man ja ein wenig Institution bleiben wie Le Monde. Immerhin sei es soweit, sagt Theo Sommer, „daß nicht mehr über die ,alte Tante‘ gehämt wird, sondern über ihren neuen Rock und ihre neue Bluse“. Doch bald wird einer kommen und sich erdreisten nachzuschauen, was darunter ist.