■ Das Papstwort zur Schwangerenberatung bringt einen Konsens in Gefahr, den auch die Papstgegner nicht ohne weiteres aufgeben sollten: Gewissensnot mit Nebenwirkung
1. Ob es ihn noch gibt, den deutschen „antirömischen Affekt“ (Carl Schmitt)? Mit der Theologie hat er nicht mehr viel zu tun, kaum noch mit Politik. Längst ist er ins sozialdemokratische Unterbewußtsein, in protestantisch-fortschrittliche Political Correctness abgesunken. Nur Preußen wie Rudolf Augstein trauern dem Kulturkampf zwischen Eisernem Kanzler und unfehlbarem Papst noch nach. Rom hat gesprochen – und egal, wie die Entscheidung ausfallen mag: Der Spiegel und die taz heulen auf, pawlowsch. Unfehlbar.
2. Der Vatikan entscheidet sich dafür, sich aus der staatlich verantworteten Gewissensberatung von schwangeren Frauen zu verabschieden – wieder ist frau nicht zufrieden. Erst wenn der Papst zur Tötung ungeborenen Lebens sein „No problem!“ rausläßt, wird er keinen Anstoß mehr erregen. Aber dann ist er überflüssig geworden.
Wie hätten Sie's denn gern, Herr Augstein, meine Damen? Gerade in einer weltanschaulich offenen Gesellschaft wird man auch dem päpstlichen Lehramt nicht verbieten können, die Tötung ungeborenen Lebens als „Verbrechen“ zu verurteilen. Fortschrittlichen Frauen geht schon die Zwangsberatung zu weit. Jetzt, nachdem die katholische Kirche aussteigt, haben wir endlich den Grund (so kommentierte die taz), jede staatliche Verpflichtung zur kommunikativ gestützten Gewissensberatung ungewollt schwangerer Frauen ganz loszuwerden.
Unterstellt wird dabei, daß mit den katholischen Beratungsstellen die einzig prinzipiellen, ernsthaften Kritikerinnen (auch) der selbstbestimmten Abtreibung aus dem staatlichen Beratungssystem verschwinden. Ob das die evangelischen, die Pro-Familia- und anderen -Beratungsstellen gerne hören? Leisten denn alle nicht katholischen Beratungsstellen eh bloß nur Pro-Forma-Beratungen, in denen es nur um den Schein geht, die „Lizenz“ (Bischof Dyba)?
3. Sollen auch katholische Schwangerenberatungsstellen den Beratungsschein ausstellen dürfen, welcher seit der Reform des Paragraph 218 die Voraussetzung für eine straffreie Abtreibung innerhalb der ersten zwölf Wochen darstellt? Bekanntlich halten unter den deutschen Bischöfen vor allem Dyba und Meisner diese (noch) geltende Praxis für eine kirchliche Beteiligung an der Legalisierung der Fristenlösung und fordern den Rückzug der katholischen Kirche aus der staatlichen Pflichtberatung. Der polnische Papst und sein deutscher Vordenker Ratzinger geben ihnen recht. Ohne seine Auffassung als kanonische Glaubensentscheidung auszugeben, hält Johannes Paul II. in seinem Brief an die deutschen Bischöfe dafür, „daß der Schein die Kirche in die Tötung unschuldiger (d.h. ungeborener) Kinder verwickelt und ihren unbedingten Widerspruch gegen die Abtreibung weniger glaubwürdig macht“.
Der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, der Mainzer Bischof Karl Lehmann, ist mit der Mehrheit der deutschen katholischen Bischöfe anderer Auffassung. Er wird nicht zuletzt darum seit Jahren bei der Ernennung neuer Kardinäle übergangen. Die Kirche – so meint auch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) – solle den bedrängten Frauen „möglichst nahe bleiben“ und darum die Pflichtberatung nicht verlassen.
4. Darüber läßt sich auch unter rechtgläubigen Katholiken trefflich streiten. Wenn wirklich durch die kirchlich durchgeführten Pflichtberatungen schwangerer Frauen – wie ZdK-Präsident Meyer meint – „jährlich mehrere tausend Kinder gerettet“ (also ebenso viele Abtreibungen verhindert) werden, dann wäre der Rückzug der Kirche aus der Pflichtberatung von werdenden Müttern, die an eine Abtreibung denken, tatsächlich eine Art „unterlassene Hilfeleistung“. Jedenfalls ließe sich so die Mehrheitsposition der deutschen Bischöfe und Laien gut kasuistisch in der christkatholischen Moraltheologie verankern.
5. Es geht aber gar nicht um Moraltheologie, sondern um Kirchenpolitik: Umstritten ist die Rolle der Kirche in Deutschland, einer zwar längst weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft mit einer wachsenden Anzahl von bekennenden Atheisten, bewußt Konfessionslosen und Anhängern anderer Religionsgemeinschaften, die jedoch an der privilegierten Vorzugsstellung der großen christlichen Konfessionen festhält. Das katholische Milieu hat sich längst aufgelöst – symbolisch wie finanziell aber wird die Kirche weiterhin als staatstragende Institution vom Staat getragen.
Seit den fünfziger Jahren ist die Bundesrepublik (gerade als Sozialstaat) zutiefst von Ideologie und Wirklichkeit der Volkskirche geprägt: Zunächst katholisch für die CDU, protestantisch für die SPD, später wurden Mischehen zugelassen. Das gemeinsame „Sozialwort“ der katholischen Bischofskonferenz und des Rats der Evangelischen Kirche vom Februar letzten Jahres faßt den bedrohten Grundkonsens des zur sozialen Marktwirtschaft geronnenen volkskirchlichen Christentums noch einmal zusammen: eher ein Schwanengesang freilich als ein Aufbruchssignal. Diesen christlich codierten Sozialstaat aber will Bischof Lehmann im öffentlichen Konsens halten, auch um den Preis ernster Gewissenskonflikte.
Lehmann und Kollegen versuchen, die volkskirchliche Perspektive sozusagen an schrumpfende Wachstumsbedingungen anzupassen. Auch die Vertreter der großen (CDU/SPD) und kleinen Volksparteien (Grüne) befürchten beim Herausbrechen der Kirchen aus dem moralischen Gesellschaftsvertrag des deutschen Gemeinwesens nur ein weiteres Umsichgreifen sozialer und moralischer Anomie. Aber ist nicht die Zersetzung der Volkskirche längst unwiderruflich fortgeschritten? Aktuelle religionssoziologische Studien geben keinen Anlaß zu Hoffnungen.
6. Der Vatikan riskiert mit seinem kommunikativen Ausscheren aus dem sozial-moralischen Kompromiß der deutschen Abtreibungsgesetzgebung viel: Christgläubige sollen Glaubens- und Sittenlehre wieder bekennen müssen, wenn sie den Service der Kirche in anderen Fragen (von der Taufe bis zum Grabe) in Anspruch nehmen wollen.
Aber auch diejenigen – taz & Augstein, Gysi & Westerwelle –, die sogleich nach dem Ende der „Staatsknete“ für kirchliche Beratungs- und Sozialdienste rufen, sollten wissen, daß der moralische Konsens einer Gesellschaft stets ein fragiles, „instabiles Gleichgewicht von Kompromissen“ darstellt (um den italienischen Idealisten, Kommunisten und Kulturtheoretiker Gramsci zu zitieren). Otto Kallscheuer
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