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Die Vergangenheit im Zeugenstand

Der Pfarrer und Friedensaktivist Klaus Geyer wird verdächtigt, seine Frau Veronika erschlagen zu haben. Der kritische Theologe beteuert seine Unschuld. Seine Weggefährten glauben ihm. Heute beginnt in Braunschweig der Prozeß  ■ Von Patrik Schwarz

Mensch-ärgere-Dich-nicht, das kann man zu viert spielen und, wenn man das Brett umdreht, auch zu sechst. Ein bißchen unpraktisch war das, denn die alten Damen waren stets zu siebt, wenn sie sich einmal die Woche zum Spielekreis trafen. Wären sie nicht regelrecht vernarrt gewesen in Mensch-ärgere-Dich-nicht, dann hätten sie sich über kurz oder lang sicher für ein anderes Spiel entschieden. So aber mußte bei jeder Runde eine von ihnen aussetzen. Der örtliche Pastor erlöste sie schließlich. Ein neues, rundes Spielbrett hat er den Damen gebastelt, so daß sie darauf alle gemeinsam Platz fanden.

Und sei's aus Schalk oder weil er geordnete Verhältnisse schätzte, legte der Pfarrer dem Spiel eine Vereinbarung bei, die er „Testament“ nannte. „Wenn wir uns mal zanken, müßen wir den Pastor rufen“, erinnert sich eine der Damen, „und wenn wir mal nicht mehr sind, geht das Spiel an ihn zurück.“ Nur für den einen Fall ist im „Testament“ keine Vorsorge getroffen: Daß er selbst eines Tages nicht mehr bei seiner Gemeinde sein würde, das konnte sich Pastor Klaus Geyer nach 22 Jahren im Örtchen Beienrode offenbar nicht vorstellen.

Am Abend des 29. Juli 1997, einem Dienstag, wird Klaus Geyer im Beienroder Pfarrhaus verhaftet. Am Freitag zuvor hatte der 56jährige seine drei Jahre jüngere Frau als vermißt gemeldet, weil sie von einer Einkaufsfahrt am selben Tag nicht zurückgekehrt war. Am Montag abend wird in einem Waldstück in der Nähe von Braunschweig die Leiche von Veronika Geyer-Iwand gefunden. Pastor Geyer gerät in Verdacht, seine Ehefrau ermordet zu haben. Viel zu früh habe er sie als vermißt gemeldet, viel zu früh den Verdacht auf ein Verbrechen geäußert, argumentiert die Staatsanwaltschaft.

Nach Ansicht der Ermittler hat der Pfarrer zuerst mit einem Nageleisen auf den Hinterkopf seiner Frau gezielt. Als dieser Schlag die 53jährige nicht tötete, habe er sie in das Waldstück geschafft. Erst dort habe seiner Frau mit einem unbekannten Werkzeug tödliche Gesichts- und Kehlkopfverletzungen zugefügt. Der Tatvorwurf stützt sich auf Indizien, es gibt keine unmittelbaren Zeugen, und der Pfarrer beteuert von Anfang an seine Unschuld. Sechs Monate nach seiner Verhaftung sitzt er immer noch im Untersuchungsgefängnis. Am heutigen Montag wird der Prozeß gegen ihn eröffnet. Es ist das erste Mal, daß in Deutschland ein Pfarrer wegen eines derartigen Verbrechens angeklagt ist.

Die Backsteinmauern um den kleinen Friedhof im Park des Pfarrhauses von Beienrode haben eine angenehme Höhe. Sie sind gerade hoch genug, um ein Gefühl von Geborgenheit zu erlauben, aber nicht so hoch, als daß sie Beklemmung auslösen würden. Wenige Tage, ehe der Prozeß gegen Klaus Geyer beginnt, liegt frischer Schnee über dem Gräberfeld. Als Veronika Geyer-Iwand im Sommer beigesetzt wurde, stand der Park in voller Blüte. In den Baumkronen saßen Fotografen und zielten mit ihren Objektiven über die Friedhofsmauern.

Die Staatsanwaltschaft hatte Pastor Geyer als Motiv einen „ernsthaften Beziehungskonflikt“ unterstellt. Die Ermittler äußerten sich nicht eingehender, den Rest besorgten Reporter. In Zeitungs- und Fernsehberichten ist von außerehelichen Beziehungen des Pfarrers die Rede. Bild am Sonntag behauptete: „Pastor Geyer hatte vermutlich nur kurze Zeit nach dem Mord Sex mit einer Geliebten – im Schlafzimmer des Pfarrhauses.“ Die Hamburger Theologin Dorothee Sölle, den Geyers durch Jahre gemeinsamer Arbeit verbunden, flüchtet sich in Sarkasmus: „Das war Sommerloch und Sex und Kirche – was Besseres kann einem Journalisten nicht passieren.“ Seit der Beerdigung ist es auf dem Anwesen weitgehend friedlich gewesen. Nun, da der Prozeß beginnt, könnte sich das erneut ändern, fürchtet Landessuperintendent Hinrich Buß, der im vergangenen Sommer die Trauerfeier zelebrierte: „Berichterstattung ist Saisongeschäft.“

Die Stimmen, die an diesem Nachmittag die Friedhofsruhe stören, klingen nicht, als gehörten sie Reportern. Drei Gestalten in Wanderbekleidung drängen durch das schmiedeeiserne Tor. Ohne Umstände geht eine Frau in roter Winterjacke durch die Gräberreihen und wedelt mit ihrem Handschuh den Schnee von den Schriftzügen. Als sie den Namen findet, nach dem sie offenbar gesucht hat, stellt sie sich in Pose, die zweite Frau tritt dazu. Ihr Begleiter knipst die Szene mit einer Pocketkamera. Auf dem Grabstein steht „Professor Hans Joachim Iwand“, und die Daten „1899 – 1960“.

Der Vater von Veronika Geyer- Iwand war für viele eine überragende Figur – und ist es noch: Kurz bevor der Professor starb, vor bald vierzig Jahren, sei sie ihm einige Male begegnet, begründet die Verehrerin in der roten Jacke ihren Besuch auf dem Beienroder Friedhof. Noch heute bekomme ihre Tochter im Theologiestudium Texte von Hans Joachim Iwand zu lesen. Doch der herausragende Kirchenmann wirkt nicht nur in akademischen Seminaren bis in die Gegenwart nach.

Nach dem Mord an seiner Tochter Veronika diskutiert man in Kirchenkreisen, ob Iwands bekanntermaßen großer Einfluß auf den Schwiegersohn Klaus Geyer etwas hergeben könnte für die Suche nach einem Motiv. Und wie vor einer höheren Instanz scheiden sich die Geister: Die einen werten Iwands Vorbildfunktion für Geyer wie einen Beleg dafür, daß der Tatverdacht gegen den Pfarrer schlichtweg absurd ist. Die anderen sehen just in der Bürde dieses Erbes einen möglichen Grund für die Gewalttat. Und so zeigt sich am Blick der Lebenden auf den längst Verstorbenen die Crux eines jeden Indizienprozesses: Steht ein schwerer Verdacht ohne eindeutige Beweise im Raum, wird die Vergangenheit in den Zeugenstand gerufen.

Hans Joachim Iwand hat in Beienrode gewissermaßen eine Dynastie des Guten begründet. 1935 war der damalige Königsberger Theologieprofessor als Vertreter der nazifeindlichen Bekennenden Kirche mit „Reichsredeverbot“ belegt worden. Nach dem Krieg, Königsberg war jetzt sowjetisch, baute er im niedersächsischen Beienrode ein Rittergut in das „Haus der helfenden Hände“ um. Halb Heimstatt für früh verwitwete Pastorengattinen aus Ostpreußen, halb kibbuzähnliche Kommune wurde das „Haus der helfenden Hände“ zu einem Anlaufpunkt für linke Christen aus Deutschland, der Tschechoslowakei und Polen, zu einer Drehscheibe im kirchlichen Ost- West-Dialog während des Kalten Krieges. Als Veronika Iwand Klaus Geyer heiratet, ist ihr Vater bereits tot, doch sein Erbe bestimmt den Weg der nächsten Generation.

Für einen unbeteiligten Beobachter ist es an diesem Punkt in der Geschichte ratsam, innezuhalten. Spätestens jetzt, in der Schilderung der zurückliegenden Jahre, gehen die Darstellungen derer auseinander, die das Ehepaar Geyer kannten, mit ihnen zusammengearbeitet haben oder befreundet waren. Niemand äußert einen offenen Zweifel an der Unschuld des Inhaftierten, doch je nachdem, wen man fragt, wird die Vergangenheit unversehends zur Zeugin der Anklage oder der Verteidigung.

Ein Pfarrerkollege, der Klaus Geyer wiederholt im „Haus der helfenden Hände“ traf, erinnert sich an einen Mann im Schatten der Familie seiner Frau. Als Theologe sei der Pastor geprägt gewesen von den Ideen von Professor Iwand und dessen berühmte Weggefährten Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth. Als Ehemann lebte er in dem Ort, Park und Haus, denen der Schwiegervater seinen Stempel aufgedrückt hatte. In der Dynastie des Guten, kurz gesagt, sei Klaus Geyer womöglich festgelegt gewesen auf die Rolle des Prinzgemahls: immer präsent, selten potent. Ein anderer Kirchenmann, in gehobener Position und auf Anonymität bedacht, deutet die Vergangenheit ähnlich. Dorothee Sölle, die mit Klaus Geyer die kritische Zeitschrift „Junge Kirche“ herausgab, widerspricht heftig. „Daß das eine starke Tradition war, in die er hineingeheiratet hat, hinaufgeheiratet hat, das war objektiv so“, sagt die Theologin – aber daraus eine Verbindung zum gewaltsamen Tod seiner Ehefrau herzustellen sei infam. Von den vielen Weggefährten der Geyers, die ihr beipflichten, greift Pfarrer Dietrich Kuessner zu den kraftvollsten Worten: „Das war ja nicht so, daß der eine klug war und der andere dumm – und der Dumme haut dem Klugen auf den Kopf.“ In den Schilderungen der Vertrauten sieht die Vergangenheit so aus: Partnerschaftlich organisieren der Pastor und seine Frau bundesweit beachtete Friedenscamps, setzen sich gemeinsam für die Aussöhnung mit Osteuropa ein. Klaus Geyer wird vorübergehend Bundesvorsitzender von Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, Veronika Geyer- Iwand ist Ortsbürgermeisterin von Beienrode und vertritt die SPD im Stadtrat von Königslutter. Je mehr Bekannte sich äußern, desto länger wird die Liste der Aktivitäten des Ehepaars: Asylbewerbern haben sie geholfen und Alkoholkranken und geschlagenen Frauen und Obdachlosen.

Wenn man der Aufzählung all der Verdienste zuhört, scheint es, als findet nicht nur vor dem Landgericht Braunschweig ein Indizienprozeß statt, sondern auch in den Köpfen der Menschen, die die Geyers kennen. Dann blitzt da durch die Erzählungen so etwas wie Furcht, nicht genug in die Waagschale geworfen zu haben zur Entkräftigung des Verdachts, im „Haus der helfenden Hände“ könnte der eine die Hand gegen die andere erhoben haben.

Ein wenig trägt Klaus Geyer vielleicht selbst zu dieser Furcht bei. Fast wie eine Drohung mag auf seine Freunde ein Zitat aus dem Buch „Im Keller“ von Jan Philipp Reemtsma gewirkt haben. Der inhaftierte Pastor benutzte es im Weihnachtsrundbrief an seine Gemeinde: „Ich habe persönliche Gesten erlebt, denen ich mehr verdanke, als ich hier auszudrücken vermag. Aber ich habe auch festgestellt, daß das Gelingen oder Mißlingen solcher Gesten zu einem Kriterium wird.“ Zu einer Meßlatte für die Frage nämlich, wer noch zu ihm steht und wer nicht.

Seit die Pfarrfrau tot ist und der Pfarrer in Haft, werden die Aushänge in den Schaukästen der Gemeinde Beienrode von Hand geschrieben. Wo zuvor die computergetippten Plakate von Pastor Geyer hingen, kündigt jetzt Irmgard Gaßner auf selbstverfertigten Zetteln die Gottesdienste der Aushilfspfarrer an. Gaßner ist die Vorsitzende des Kirchenvorstandes, und ihr ist es wesentlich zu verdanken, daß das Gemeindeleben nicht zum Erliegen kam. Im Ort geachtet und couragiert im Umgang mit Reportern, gehört die 72jährige zu Klaus Geyers engagiertesten Verteidigerinnen.

Ihre Zweifel daran, daß der Prozeß mit einem Freispruch enden wird, kleidet sie in Zuversicht: „Ich bin jetzt so leichtsinnig, daß ich die Weihnachtskrippe so lange in meinem Wohnzimmer stehenlasse, bis er wieder da ist.“ Und wenn er verurteilt wird? „Es ist eine große Angst in uns allen, was da noch werden soll“, sagt Irmgard Gaßner. Auf der Suche nach Worten für die Vorgänge seit dem Juli letzten Jahres greifen Menschen, die die Geyers kennen, oftmals zu Formulierungen, die seltsam wolkig klingen. Sie geben Antworten, die wenig faßbar sind, und es drückt sich darin wohl aus, wie unfaßbar ihnen bis heute die Tat und der Verdacht erscheinen.

Klaus Geyers Strafverteidiger Ernst-Otto Nolte ist ein nüchterner Mann, der nicht müde wird zu betonen, wie schwach die Beweislage der Staatsanwaltschaft gegen seinen Mandanten sei. Selbst die beiden wichtigsten Indizien werde man entkräften: die Analyse der Ermittler, wonach Erdspuren an Geyers Gummistiefeln vom Tatort stammen sollen, sowie das Protokoll eines Telekom-Computers, der in einer Telefonzelle in unmittelbarer Nähe zum Fundort der Leiche einen Anruf nach Beienrode registrierte, obwohl der Pastor aussagte, er habe von der Braunschweiger Innenstadt aus telefoniert.

Doch fragt man Nolte, warum es ihm dann nicht gelungen ist, den Pastor aus der U-Haft zu holen, flüchtet sich der Rechtsanwalt in ein vieldeutiges Bild: „Das ist ja wie das Schiff auf offenem Meer, das ist unterschiedlichen Mächten ausgesetzt.“

Ganz fest indes klingt die Stimme der alten Dame, die dem Pfarrer bis heute dankbar ist für das runde Mensch-ärgere-Dich- nicht-Brett. „Der kann das gar nicht gewesen sein.“ Ihr folgender Satz ist kaum zu verstehen, aber das liegt wahrscheinlich nur daran, daß sie den Kopf abwendet. „Oder sonst geht alles unter.“

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