: Schöne Grüße aus unserer Lebenswelt
■ Himmlische Planungsfehler und „gesunder Menschenverstand“ – H. P. Bahrdts Aufsätze
Die ominöse wechselseitige Abhängigkeit zwischen sozialen Verhaltensweisen und gesellschaftlichen Verhältnissen: gibt es sie denn überhaupt? Mit einem entschiedenen „Ja!“ antwortet Hans Paul Bahrdt und sieht darin die eigentliche Thematik der Soziologie. Mit seinen Vorbildern Edmund Husserl, George Herbert Mead und Max Weber teilt er ein Anliegen: aus der Interpretation der am sozialen Geschehen Beteiligten die soziale Wirklichkeit zu verstehen. Immer wieder hat er sich politisch eingemischt. Und auf die Frage, ob wir aus der Geschichte lernen können, erwidert Bahrdt, daß wir aus ihr lernen müssen.
Bahrdts Veröffentlichungen insbesondere zur Stadtforschung und zur Struktur von Kommunikation und Interaktion gehören zum Besten, was man hierzulande bekommen kann. Seine Argumentationen sind ebenso scharfsinnig wie humorvoll. Des üblichen Soziologenjargons enthalten sie sich verdienstvollerweise. Nun hat Ulfert Herlyn aus dem Nachlaß (Bahrdt starb 1994) haufenweise Unveröffentlichtes ausgegraben und posthum in zwei Bänden ediert. Davon ist der eine, die „Himmlischen Planungsfehler“, eine Offenbarung. Daß es eine geradlinig fortschreitende Evolution der Menschheit gibt, stellt Bahrdt mit seiner titelgebenden Wissenschaftssatire auf wunderbare Art in Frage.
Scharfer Kampf auf dem Engelskongreß
So gekonnt wie beredt bemüht er einen Engelskongreß, anläßlich dessen sich die verschiedenen Himmelsfraktionen über die Fortexistenz der Menschheit in die Himmelswolle kriegen. Zwar sei „nicht plausibel, daß Gott in dem vorgerückten Stadium der Schöpfung, als die Erschaffung des Menschen anstand, sein Arsenal an Eigenschaften und technischen Lösungen schon so weit aufgebraucht hatte, daß für den Menschen nicht genug übrig war, um eine gediegene und vollständige Ausstattung zu sichern“. Aber so ganz scheint die Chose mit dem menschlichen Fortschritt nicht hingehauen zu haben.
„Es wird erzählt, einmal habe Gott zornig mit Donnerstimme gerufen: ,Der Mensch ist kein Affe! Wie oft soll ich das noch sagen?‘ und habe türschlagend das Labor verlassen. Einer der Engel habe gemurmelt: ,Wenn man bloß wüßte, was er damit meint?‘ Luzifer, damals noch als Erzengel tätig, habe darauf gesagt: ,Das wird der Alte noch bereuen.‘ Diese Äußerung ist gut verbürgt. Freilich, weiß man nicht, ob sie eine – übrigens ziemlich richtige – Prognose oder eine Drohung war.“
In der vorangestellten autobiographischen Skizze erläutert Bahrdt, wie er seine Jugend und Adoleszenz recht behütet – sozusagen auf einer „Insel“ – verbringen konnte, so daß ihm „nationalsozialistische Verhaltenszumutungen“ weitgehend erspart blieben. Interessant vor allem auch deswegen, weil dies als Beitrag zu einer „Soziologie in Selbstdarstellungen“ geplant war – auf dessen Ergebnis man hätte gespannt sein dürfen. Doch man wird entschädigt: Das Spektrum der Essays ist so beeindruckend, wie die Gedankengänge tief sind.
Von den „gesellschaftlichen Voraussetzungen von Judenfeindschaft“ über die „neuen Medien und die lokale Öffentlichkeit“ bis hin zu Reflexionen über die Geschichtlichkeit menschlicher Existenz am Beispiel des Denkmalschutzes eröffnet sich ein nur scheinbar wildwüchsiger Themengarten. Selbst Märchen wie das vom auf die Erde zum Pfefferkuchenmalen geschickten Engel gedeihen auf solch fruchtbarem intellektuellem Boden zu sozialwissenschaftlichen Parabeln.
Der Spannungsbogen öffentlich – privat
Der grundlegende Aufsatz, „Öffentlichkeit und Privatheit“, beschreibt und fixiert jenes spezifische Spannungsverhältnis, aus dem sich erst entwickeln kann, was gemeinhin Urbanität genannt wird. Die Polarität als Bedingung: Bahrdt versteht es, einerseits die positive Bedeutung von sozialer Distanz geschichtlich aus den Konstitutionsprinzipien der bürgerlichen Gesellschaft herauszuarbeiten, andererseits die aktuelle Chance zu Distanzierungen als Voraussetzung für urbanes Leben zu thematisieren. Obgleich bereits 1979 in Teilen veröffentlicht, können die hier entwickelten Gedanken gerade für unsere gegenwärtige (eher einseitige) Urbanitätsdiskussion nur ein Gewinn sein.
Der so gern beklagte Verlust an ,öffentlichem Raum‘ ist im übrigen ein Mißstand, für den Hannah Arendt einmal ein schönes Wort geprägt hat: „Diese Situation ähnelt in ihrer Unheimlichkeit einer spiritistischen Séance, bei der eine um einen Tisch versammelte Anzahl von Menschen plötzlich durch irgendeinen magischen Trick den Tisch aus der Mitte verschwinden sieht, so daß nun zwei sich gegenübersitzende Personen durch nichts mehr getrennt, aber auch durch nichts Greifbares mehr verbunden sind.“ Ganz in diesem Sinne geht es Bahrdt, wenn er von Öffentlichkeit spricht, auch um die Zwanglosigkeit des Rahmens, innerhalb dessen sich Kontakte ergeben (können). „Trotz aller Kasuistik erlaubter Themen kann sich aus der Frage nach dem Weg ein Flirt entwickeln.“
Demgegenüber bleibt das zweite Buch in einem eher konventionellen Rahmen. Mit den „Grundformen sozialer Situationen“ versucht Bahrdt, sich den Typen, Möglichkeiten und Barrieren der Deutung von (sozialen) Situationen aus der Sicht der diese Erlebenden und in ihnen Handelnden zu nähern. Glücklicherweise stimmen Bahrdts persönliches Credo und seine wissenschaftliche Ausrichtung überein. Bei all seinen Untersuchungen umkreist er den Begriff der Identität; in ihm sieht er das zentrale Element der Sozialität menschlicher Situationen. Insbesondere Alltagswelt und Alltagswissen haben es ihm angetan, denn gerade darin spiegle sich häufig der „gesunde Menschenverstand“ – dessen Handikap allerdings, wie er sarkastisch anmerkt, darin besteht, „daß er nicht sicher überprüfen kann, wie ,gesund‘ er ist“. Grund genug, den Verstand mit Bahrdt zu schärfen. Robert Kaltenbrunner
Hans Paul Bahrdt: „Himmlischer Planungsfehler. Essays zu Kultur und Gesellschaft“. Hrsg. von Ulfert Herlyn, Beck Verlag, München 1996, 297 Seiten, 48 DM
Derselbe: „Grundformen sozialer Situationen. Eine kleine Grammatik des Alltagslebens“. 237 Seiten, 39,80 DM
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