: „Die Bewegung wird noch kommen“
■ Sozialforscher Ansgar Klein, Herausgeber des Wissenschaftsjournals „Neue soziale Bewegungen“, zum Aktionstag der Arbeitslosen
taz: Vor einigen Tagen prognostizierten Umfragen, daß bis zu drei Millionen auf die Straße gehen. Es kamen nur ein paar tausend. Wie erklären Sie sich das?
Ansgar Klein: Die Zahl von 4,83 Millionen Arbeitslosen ist doch nur eine statistische Gruppe. Diese Leute teilen zwar ein bestimmtes Problem. Aber daß sie sich zusammenschließen, sehe ich in Deutschland nicht.
Warum stoßen die Proteste der Erwerbslosen in Frankreich auf größere Resonanz?
Dort haben wir Richtungsgewerkschaften, die miteinander konkurrieren. Wir haben ein vielfältigeres Parteienspektrum als in Deutschland. Diese Konkurrenz bedeutet, daß französische Gruppen von sozial Schwachen es einfacher haben, Gewerkschaften zu mobilisieren. Diese sprechen sich auch im vorhinein mehr für deren Interessen aus. Unsere deutschen Gewerkschaften, die auch arbeitslose Mitglieder haben, betreiben im Ernstfall keine wirkliche Politik für diese Gruppe.
Braucht eine wirkungsvolle Protestbewegung auch parteipolitische Präferenzen?
Soziale Bewegungen brauchen zumindest Kontakte und Vernetzungen ins Parteilager hinein. Sie müssen auf Problemaufgeschlossenheit und Problemdurchsetzungsvermögen treffen. Ohne diese Andockpunkte wird die Sache schwieriger.
Politiker und Kirchen haben den deutschen Protesttag begrüßt.
Öffentliche Resonanz ist das eine. Eine gehaltvolle Wertung das andere. In gewisser Weise reagiert unsere politische Öffentlichkeit hilflos und antwortet mit Fatalismus. Gewerkschaften und Parteien mobilisieren die Arbeitslosen unter der Parole „Kohl muß weg“. Weil bereits Wahlkampf ist, greifen sie den Arbeitslosenprotest auf.
Auf welche Unterstützung können französische Arbeitslose rechnen, die den deutschen fehlt?
In Frankreich stehen Intellektuelle an ihrer Seite, sie sind Sprachrohr und Legitimationsinstanz zugleich. Das ist sehr wichtig, wenn Pierre Bourdieu es gutheißt, daß die Villa des Arbeitgeberpräsidenten besetzt wird oder die Börse. Diese Symbole werden von der Öffentlichkeit verstanden. Man skandalisiert die ungleiche Situation in der Gesellschaft und findet öffentliche Resonanz. Solch ein Zusammenspiel zwischen Aktion und Akzeptanz sehe ich in Deutschland nicht.
In den nächsten Monaten sollen die Proteste hier weitergehen. Welche Prognose wagen Sie?
Mit dem Ausgang der Bundestagswahl wird die Ausgangslage für die Proteste klar sein. Gewinnt die jetzige Regierung, wächst der Frust. Gewinnt Rot- Grün, können sich die Protestler auf ein Regierungsprogramm beziehen. Wie auch immer: Nach der Wahl wird das soziale Klima schärfer. Die Zeit für eine Bewegung wird kommen, je mehr sich Parteien, Kirchen, gemeinnützige Organisationen für soziale Probleme öffnen. Interview: Annette Rogalla
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