„Wer hat uns das eingebrockt?“

■ Erstarrt und hilflos reagierten die Mächtigen der SED auf das Ende ihres Staates, nachzulesen in den Protokollen der letzten ZK- Sitzungen

Das Volk feierte auf den Straßen, den Genossen im Saal hatte es die Sprache verschlagen. „Wer hat uns das bloß eingebrockt?“ sinnierte etwa der frisch bestellte Generalsekretär der SED, Egon Krenz. Und vom Mitglied des Zentralkomitees, Hans Modrow, ist überliefert: „Uns allen war bewußt, daß etwas passiert war, was eigentlich nicht im Sinne der Sache war.“ Es war Freitag, der 10. November 1989. Um 9.05 Uhr begann der 3. Beratungstag der 10. Tagung des Zentralkomitees, ein neues Aktionsprogramm der Partei stand auf der Tagesordnung. Die Debatte aber kreiste um die katastrophale Wirtschaftslage der DDR. Das alles dominierende Ereignis fand zunächst keine Erwähnung: In der Nacht zuvor hatten Zehntausende DDR-BürgerInnen die Öffnung der Grenzübergangsstellen nach West-Berlin erzwungen und Freudentänze auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor aufgeführt. Neun Redebeiträge wurden gehalten, bis Egon Krenz, der die Beratungen leitete, gegen 10 Uhr erklärte: „Genossen, ich bitte um Verständnis. Ich weiß nicht, ob wir alle noch nicht oder viele, da will ich niemandem zu nahe treten, den Ernst der Lage erkannt haben. Der Druck, der bis gestern auf die tschechoslowakische Grenze gerichtet war, ist seit heute Nacht auf unsere Grenzen gerichtet. Es besteht die große Gefahr, daß uns viele Menschen verlassen, obwohl ein positives Zeichen ist: Von denen, die heute Nacht nach Westberlin gegangen sind – der Druck war nicht zu halten, es hätte nur eine militärische Regelung gegeben, Genossen, da waren wir uns einig. Durch das besonnene Verhalten unserer Grenzsoldaten, unserer Genossen vom MdI, vom MfS ist die Sache mit großer Ruhe bewältigt worden – und über zwei Drittel derer, die heute Nacht Westberlin besucht haben, sind inzwischen wieder auf ihren Arbeitsplätzen hier. Das ist ein positives Signal, aber der Druck nimmt weiter zu.“

Der Niedergang der SED und die letzten Tage im Zentralkomitee lassen sich inzwischen en détail nachlesen. Die früher streng geheimen Tonbandmittschnitte wurden von Hans-Hermann Hertle und Gerd-Rüdiger Stephan veröffentlicht, der Band trägt den Titel „Das Ende der SED“. Angefertigt wurden die Mitschnitte als Stütze für die Stenographen. An eine Veröffentlichung derselben war zu keinem Zeitpunkt gedacht. Alle Redner erhielten die Möglichkeit, ihr gesprochenes Wort zu redigieren. Erstellt wurden daraus die „roten“ Protokolle (nach der Farbe des Umschlags benannt), die ausschließlich den Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees ausgehändigt wurden.

Die Fortsetzung der 10. Beratung war gespenstisch. Der Stasi- Vizechef Mittig und Ex-ZK-Sekretär Hager verlasen ihre vorbereiteten Statements, der eine über die allgemeine Lage aus der Sicht des Staatssicherheitsdienstes, der andere über Fragen der Verantwortlichkeit und der Gefahr einer Konterrevolution. Hellsichtig wirft einer ein, dessen Namen in der hektischen Diskussion untergeht, ein: “Die Partei ist im Grunde genommen kaputt.“ Ohne einen neuen Termin zu vereinbaren, brachen die Genossen die Tagung gegen 13 Uhr ab. Wolfgang Gast

Hans-Hermann Hertle, Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.): „Das Ende der SED“. 500 Seiten, Christoph Links Verlag, Berlin, November 1997, 58 DM