Überqualifiziert oder inkompetent?

Bei Juristen und Chemikern läuft die Universitätsausbildung an den Bedürfnissen der Arbeitsmarktlage vorbei. Neue Studienverordnungen, die dem entgegenwirken sollen, kommen nur langsam in Gang
■ Von Karin Hahn

Auf die Frage, wie die Probleme dieser Welt zu lösen seien, antwortete der US-Präsident Abraham Lincoln, seinerzeit selber ein berühmter Strafverteidiger: Erschießt alle Juristen. Natürlich wäre dies auch heutzutage eine Möglichkeit, den Arbeitsmarkt für Akademiker zu entlasten. Gerade die Juristerei hat in den achtziger Jahren regelrecht geboomt; die Einschätzung nach dem Motto „Gestritten wird schließlich immer“ gilt nach der Wiedervereinigung ebenfalls als bestätigt.

Noch in diesem Jahr rechnen Experten damit, daß die Zahl der 100.000 in Deutschland zugelassenen Anwälte überschritten wird. Viele ringen daher um ein Existenzminimum, mit einer Besserung des Arbeitsmarktes dürfen sie in den nächsten Jahren ebenfalls nicht rechnen. Selbst die einst als „sichere“ Studienfächer gepriesenen Naturwissenschaften sind auf dem Arbeitsmarkt längst eingebrochen. Während der Diplomchemiker früher noch zum Hochschulabsolventen mit höchstem Einstiegsgehalt gehörte, bevölkern heute 5.000 seiner Kollegen die Gänge der Arbeitsämter.

Die Ursache: Globalisierung und Strukturwandel in der chemischen Industrie, die sich seit einigen Jahren im Umbruch befindet. Längst veraltete Zweige der Chemieindustrie, wie die Farbstoffchemie oder die Herstellung von anorganischen und organischen Grundchemikalien, wurden eingeschränkt, zum Teil sogar ganz aufgegeben. Neue Produktionsstätten siedelten sich im Ausland an, näher an die Absatzmärkte der Produkte. Die Folge: ein Stellenabbau, von dem auch die Forschung betroffen war.

Das Desaster war schließlich sogar an den Universitäten zu spüren: Die Zahl der Studienanfänger nahm rapide ab, manche Fakultät fürchtete gar ein regelrechtes Ausbluten. Um dem Chemiker künftig neue Berufsfelder aufzuzeigen, wurde im Juni 1996 auf der Vollversammlung der Konferenz der Fachbereiche Chemie (KFC) in Würzburg eine Denkschrift „Zur Neuordnung des Chemiestudiums“ veröffentlicht.

Das Ziel der Neuordnung: die Anerkennung des Diplom-Chemikers als berufsbefähigender Abschluß. Leider hapert es mit der Anerkennung bis heute; wer einen festen Posten in der Industrie ergattern möchte, der muß schon promoviert haben. Die Absolventen haben beim Eintritt in das Berufsleben die dreißig Lenze meist locker überschritten – ein Zustand, den die Arbeitgeber seit Jahren schon bemängeln. Kritik kommt auch von seiten der Professoren: man müsse sich mit Doktoranden herumschlagen, die eigentlich gar nicht promovieren sollten.

Eine Studie des Instituts für angewandte Innovationsforschung und des Forschungszentrums für Personalentwicklung der Bochumer Universität kommt zu einem deprimierenden Schluß: Die Chemiker werden am Bedarf vorbei ausgebildet und seien zwar „hochqualifiziert“, aber „inkompetent“. Statt promovierter Fachkräfte bräuchte man einsatzfähige und flexible Generalisten.

Eine Forderung, die auch den Juristen nicht fremd ist. Die Parole lautet hier: weg vom Einheitsjuristen. Bislang endete der erste Abschnitt des Jurastudiums mit dem ersten Staatsexamen. Anschließend wurden alle Absolventen in den staatlichen Referendariatsdienst übernommen – freilich erst nach unterschiedlich langer Wartezeit. Danach folgte das zweite Staatsexamen. Die Justizverwaltungen übernehmen lediglich zehn Prozent der Examinierten – der Rest sucht sich Stellen in der Wirtschaft oder in Anwaltskanzleien. Für Letztere erwiesen sich die Absolventen allerdings als nur unzureichend qualifiziert. Die Forderung des Deutschen Anwaltsvereins (DAV): Im Anschluß an das erste Staatsexamen sollen die Studierenden von der Anwaltschaft selbst ausgebildet werden, während die theoretische Ausbildung an den staatlich finanzierten Akademien stattfinden soll. Auch innerhalb der Länder macht sich immer mehr Unmut über die Verbeamtung der Referendare breit. „Ab 1.April 1999 werden die Referendare in Baden-Württemberg nicht mehr verbeamtet, sondern als Angestellte im öffentlichen Dienst eingestellt“, verkündet Heinrich Schloppmeyer, Sprecher des Justizministeriums in Baden-Württemberg. Eine Bundesrahmenrechtsänderung vom vorigen Jahr setzte diese Neuregelung schließlich durch.

Die Studienreform der Rechtswissenschaften wird seit etwa eineinhalb Jahren diskutiert. Hartmut Schulz, Vorsitzender des Ausschusses der Justizministerkonferenz zur Koordinierung der Juristenausbildung, hofft, daß sie Mitte Juni dieses Jahres von der Kommission behandelt werden kann. „Doch für eine endgültige Reform muß erst das Bundesrecht geändert werden.“ Daß dies noch vor der Bundestagswahl geschehe, halte er hingegen für unwahrscheinlich. Deshalb seine düstere Prognose: „Der Bundestag wird sich frühestens Anfang 1999 damit befassen.“ Bis die Reform greift, dürften die ersten Jahre des neuen Jahrtausends ins Land gegangen sein.

Wesentlich unkomplizierter gestalteten sich hingegen die Reformbemühungen der Chemiker. Sie beschlossen eine Dreigliederung des Studiums: Nach einem sechssemestrigen Basisstudium (vier Semester Grund-, zwei Semester Hauptstudium) teilt sich der Studiengang in drei Zweige. Da ist zunächst das forschungsorientierte Chemiestudium, dem sich nach dem Diplom die Promotion anschließen sollte. Eine weitere Möglichkeit bietet das anwendungsorientierte Chemiestudium, das mit dem Diplom abschließt. Im dritten Zweig ist ein nichtchemisches Zusatzstudium vorgesehen, bei dem zum Beispiel der Abschluß des „Diplomwirtschaftschemikers“ erworben werden kann. Alle drei Richtungen sollen nach vier Semestern beendet werden.

Der nicht unerhebliche Knackpunkt der Reform: Die Regelstudienzeit erhöht sich von neun auf zehn Semester. „Der Antrag auf Ausweitung der Regelstudienzeit wurde von der Kultusministerkonferenz und der Hochschulrektorenkonferenz abgelehnt“, stellt Jörn Müller, Chemieprofessor an der Technischen Universität (TU) Berlin, fest. „Trotzdem wollen wir an dem Modell, das auch von der chemischen Industrie und den Fachverbänden begrüßt wurde, festhalten.“

Geplant ist nun ein stark internationalisierter Studiengang, der entweder nach sechs Semestern mit dem Grad des „Bacelor“ oder nach zehn Semestern mit dem „Master“ endet. An der Umsetzung des Modells, vor allem des dritten Zweiges, soll jedoch weiterhin gearbeitet werden.