■ Vorschlag
: „Der Schrei der Seide“ – Erstlingsfilm von Yvon Marciano

Paris, 1914. Eine junge Frau betritt einen Stoffladen. Sie schaut sich verstohlen um, zückt ein Rasiermesser und liegt wenige Sekunden später mit ekstatisch verzerrtem Gesicht auf der Erde, krampfhaft preßt sie ein Stück Seide zwischen die Beine.

Was klingt wie die sexuelle Wunschvorstellung eines Schneiders, ist der behutsame Versuch des französischen Regisseurs Yvon Marciano, ein ungewöhnliches Fetischthema zu erklären: die Vorliebe der jungen Schneiderin Marie Benjamin (Marie Trintignant) für den Stoff Seide.

Die wiederholte Stoffdiebin Marie wird wenig später ins Gefängnisspital eingeliefert, wo sich der Psychiater Gabriel de Vilemer (Sergio Castellito) ihrer annimmt. Und je genauer der stille, zurückhaltende Arzt den Fall untersucht, desto mehr fasziniert ihn die sinnliche Stoff-Affektion der jungen Frau. Er beginnt, sich in wissenschaftlichen Vorlesungen mit ihr zu befassen. Und Marie wird ebenfalls von dem Mann angezogen, der ihre Leidenschaft als einziger zu verstehen scheint.

Der Erste Weltkrieg trennt die beiden, Gabriel wird Offizier, in Marokko verwundet und verbringt seine Dienstzeit mit dem Fotografieren von in Stoffe gehüllten Frauen, während Marie im Gefängnis lesen und schreiben lernt. Doch nach der Rückkehr des Psychiaters nach Paris können die beiden ungewöhnlichen Fetischisten noch immer keine glücklichen Bande knüpfen: Marie wird wieder beim Stoffdiebstahl erwischt und muß ins Gefängnis, Gabriel erblindet langsam aufgrund einer Augenkrankheit. Es fällt ihm immer schwerer, die Briefe von Marie zu lesen.

Die Sinne, und zwar der Gesichts- und der Tastsinn, stehen im Vordergrund dieses unterschwellig erotischen Films. Wenn Marie ihre Alain-Delon-Schlafzimmeraugen aufschlägt und mit den Händen zärtlich die Seidenballen streichelt oder wenn Gabriel sie schweigend liebevoll-verzweifelt anblickt, weil er ihre Leidenschaft für Stoffe zwar dokumentieren, aber nicht befriedigen kann – die Seide sei ihr wichtiger als die Männer, wird er in einer seiner Vorlesungen sagen –, dann vibrieren die Härchen auf den Armen des Zuschauers. Maries Stärke liegt in ihrer Schwäche für den Stoff. So wird der Fetisch zwar gefährlich, weil der verbotene Diebstahl des Stoffes sie immer wieder in die Bredouille bringt, aber er bedeutet das positive Ausleben einer starken Sinnlichkeit. Die Leidenschaft des Psychiaters, die mit seiner zunehmenden Augenschwäche wächst, wird ihm jedoch zum Verhängnis; ohne Augenlicht kann er sie nicht mehr erleben. Bei der zweiten Begegnung der beiden – Marie scheint die Abhängigere zu sein – hat Gabriel bei ihr die Krankheit diagnostiziert, die ihn später selbst befällt. Gabriels Haushälterin, die heimlich in ihn verliebt ist, wird von Anemone verkörpert, die in das Kostüm der verklemmten, schmachtenden Dienstbotin schlüpft. Auch sie ist eine Augenweide der leisen Begierden. Jenni Zylka

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