: „Die Reform würde objektiv schaden“
■ Die Richterin am Bundesverfassungsgericht, Renate Jaeger, wendet sich gegen die drohende Abwertung der Verfassungsbeschwerde. Statt dessen sollten die Beschwerden deutlich kürzer ausfallen
Eine Kommission des Bundesjustizministeriums (BMJ) will das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entlasten. Vorgeschlagen wird eine Reform der Verfassungsbeschwerde.
taz: Künftig soll es ins „Ermessen“ der Roten Roben gestellt werden, ob eine Verfassungsbeschwerde überhaupt entschieden wird. Halten Sie das für eine sinnvolle Reform?
Renate Jaeger: Nein, denn die Behandlung von Verfassungsfragen bekommt dabei den Anschein von Beliebigkeit. So würde in den Köpfen der Leute ganz viel Vertrauen kaputt gemacht und das Gericht stark an Ansehen verlieren.
Das „Ermessen“ der Richter soll ja aber nicht völlig frei sein, sondern an bestimmte Kriterien gebunden werden...
Richtig. So gesehen ist das, was die Kommission vorschlägt, gar nicht so neu. Schon heute werden Verfassungsbeschwerden nur dann zur Entscheidung angenommen, wenn sie grundsätzliche Bedeutung haben oder dem Kläger ein schwerer Nachteil droht.
Die Kommission will aber offensichtlich weitergehen. Sie spricht von einem „Systemwechsel“ und davon, daß der „Individualschutz“ reduziert werden soll.
So stellt sich das die Kommission vielleicht vor. Sie wird aber das Verfassungsgericht wohl kaum dazu bewegen können, Fälle nicht mehr zu behandeln, bei denen dem klagenden Bürger ein schwerer Nachteil droht.
Wenn, wie außerdem vorgeschlagen, die mit drei Richtern besetzten Kammern abgeschafft werden, dann müßten alle Verfassungsbeschwerden in den beiden ohnehin überlasteten Senaten behandelt werden. Dann werden die Richter am Bundesverfassungsgericht doch schon aus Kapazitätsgründen stärker aussieben müssen?
Nein, das glaube ich nicht. Es wird jedenfalls nicht weniger erfolgreiche Verfassungsbeschwerden geben als heute. Das waren nämlich auch in den Kammern nicht sehr viele.
Für die Kommission waren es zu viele...
Ja, aber mit der Angst vor einer „sich verselbständigenden Kammer-Rechtsprechung“ wurde eine Gefahr aufgebauscht, die real gar nicht existiert.
Auch nicht beim „Soldaten sind Mörder“-Beschluß?
Das war zwar zuerst ein Kammerbeschluß, weil es nur um die Anwendung längst entschiedener Grundsätze der Meinungsfreiheit ging. Aber nach dem aufgeregten öffentlichen Interesse hat sich ein Jahr später in einem ähnlichen Fall der Erste Senat mit der Sache befaßt und kam ebenfalls zum Ergebnis, daß dieses Zitat unter Umständen straflos sein kann. Die Befürworter der Kammerabschaffung haben nur dieses Beispiel, und das belegt überhaupt nichts.
Will die Reformkommission das Verfassungsgericht schwächen?
Ich will niemandem eine solche Absicht unterstellen. Aber objektiv würde die Reform dem Verfassungsgericht schaden.
Manche ihrer Richterkollegen, etwa Präsidentin Jutta Limbach, halten die Reform für notwendig, weil das Gericht überlastet ist.
Natürlich muß etwas passieren, aber die Reformvorschläge der Kommission bringen eher Mehrarbeit als eine Entlastung. Wenn das Ziel „alle Macht an die Senate“ ernst genommen wird, müssen sich künftig jeweils acht Richter mit einer Verfassungsbeschwerde befassen, wo früher in der Regel drei genügten.
Wie würden Sie das Gericht entlasten?
Zuerst müßten die Verfassungsbeschwerden auf eine vernünftige Länge begrenzt werden. Auf zehn bis zwanzig Seiten kann man, so finde ich, jedes verfassungsrechtliche Problem auf den Punkt bringen. Zum Vergleich: Die Euro- Klage hat 352 Seiten.
Das ist alles?
Eine starke Belastung sind für uns die Klagen, bei denen sich Bürger über ein vermeintlich unfaires Gerichtsverfahren beschweren. Solche Fälle sollten nicht sofort zum Verfassungsgericht kommen, sondern erst einmal bei den Fachgerichten geprüft werden. Wenn der Fall anschließend dennoch bei uns landet, ist er gut aufbereitet und macht viel weniger Arbeit.
Glauben Sie, daß die Reform am Ende umgesetzt wird? Immerhin ist dafür eine Grundgesetzänderung erforderlich.
Es wird jetzt alles auf die Diskussion im Verfassungsgericht ankommen. Wenn das Gericht die Reform mehrheitlich befürwortet, dann wird sie der Gesetzgeber wohl auch umsetzen. Interview: Christian Rath
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