: Vera im Quadrat durch X
■ Kirsten Hammann zerlegt ihre weibliche Heldin „Vera Winkelvir“
Vera gibt es nicht, und Vera ist da, wenn sie spricht. Vera ist aus Fleisch und weichem Gummi. Jemand hat Vera erfunden, und nun muß Vera mit diesem Leben klarkommen. Vera hat keine Freunde, sondern soziale Beziehungen. Vera hat schon einmal gelebt. Vera wird einmal groß und einmal klein geschrieben. Veras Arme sind so lang, daß sie auf dem Boden schleifen. Vera ist der langweiligste Mensch, den Vera je getroffen hat. Doch Veras Geduld hat Grenzen. Denn Vera kann in 14 verschiedenen Sprachen „Auf Wiedersehen“sagen. Und immer wieder fängt Vera veramäßig von vorne an.
So folgen wir der Protagonistin Vera Winkelvir durch den gleichnamigen Roman der jungen dänischen Autorin Kirsten Hammann, den der Hamburger Achilla Verlag in deutscher Übersetzung (von Peter Urban-Halle) präsentiert. Ein Gruselroman über eine Frauengestalt, die sich sprechend gegen die Welt zur Wehr setzt; ein absurder Roman, dessen Heldin sich unablässig aufrafft, um wieder zu zerfallen.
Der Stil bruchstückhaft, flirrend, das Tempo atemlos, die Beschreibungen der Verawelt präzise wie ausufernd. Wer also galanter Übergänge wie einer zusammenhängenden Handlung bedarf, liest hier falsch. Was uns vielmehr am Lesen hält, sind der von Hammanns groteskem Humor durchsetzte Redestrom, die harten Schnitte, die Schleifen, die immer wieder an den Anfang zurückführen. Denn Veras Tage sind sich gleich in ihrer Verzweiflung wie Euphorie, unterbrochen von wenigen Ereignissen, die nur vorübergehend Normalität vortäuschen. Als da sind ein Urlaub am Mittelmeer, eine kurze Liaison mit einem französischen Kellner, zwanghafte Besuche jeden zweiten Tag beim Friseur und ein Telefon, die Schreimaschine, das unentwegt klingelt. Und selten erleichtert uns ein stabiles Ich.
Und weiter schreitet Vera voran, kämpft sich durch die Monate, die Tage, die Seiten, begleitet von der Zahl 37. 37 Tassen Kaffee trinkt Vera, auf daß sie ausruft: „Kaffee belebt!“37 Millionen Menschen sprengt Vera in die Luft. Einfach so. Und wenn am Ende Vera Winkelvir in einem Rollstuhl sitzt, wissen wir, daß sie ihr Leben noch lange nicht gewonnen hat. Kirsten Hammann (Jahrgang 1965) zählt zu den hoffnungsvollsten Talenten Dänemarks. Debütiert hat sie nach alter skandinavischer Tradition mit einem Gedichtband, der bereits ihr literarisches Anliegen skizziert. Auch hier Momentaufnahmen voller Widerstände und Verletzungen, so wie sie in dem Gedicht mit dem programmatischen Titel „Ich habe zu sprechen aufgehört“ihre Ausgangslage als Autorin wie folgt beschreibt: „Das einzige, das mich interessiert/ ist das Dunkel/ und meine Maschine/ und die anstehende Arbeit.“
Frank Keil
Kirsten Hammann, Vera Winkelvir, aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle, Achilla Presse, Hamburg, 1997, 252 Seiten, 36 Mark
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