: Anderes Dunkeldeutschland
Die Austauschorganisation AFS Interkulturelle Begegnungen e.V. bietet für Schüler aus dem Ausland die aufklärende Ost-West-Sicht: mit wechselnden innerdeutschen Kurzzeittrips ■ Von Kerstin Marx
„Ostdeutsche sind neugieriger, sie wollen mehr reisen und sich den Rest der Welt angucken“, findet Kirk (18) aus Kalifornien. Eigentlich, so der Amerikaner, habe er vor seinem Austauschjahr in Werne bei Münster gar nicht gewußt, daß es Unterschiede zwischen den alten und den neuen Bundesländern gibt. Doch jetzt ist er daran interessiert, sich sein eigenes Deutschlandbild zu machen – und das liegt vor allem daran, daß er sowohl im Westen als auch im Osten der Republik ein neues Zuhause gefunden hat.
Kirk ist einer von rund 300 GastschülerInnen aus mehr als 40 Ländern, die Jahr für Jahr mit der gemeinnützigen Austauschorganisation AFS Interkulturelle Begegnungen e.V. nach Deutschland kommen. „Der AFS will den Jugendlichen die Chance bieten, beide Teile eines Landes kennenzulernen, in dem zwei verschiedene politische Systeme zwei Sozialisationen und zwei Kulturen hervorgebracht haben“, erklärt Heribert von Reiche, ehrenamtlicher Büroleiter beim Verein Berliner Austauschschüler (VBA), in dem sich die Berliner AFSlerInnen zusammengeschlossen haben. Deswegen hat der VBA zwei Jahre nach der Wende den „Kurzzeit- Schüleraustausch im Zeichen der Einheit“ (KSZE) ins Leben gerufen:
Die AustauschschülerInnen, die während ihres Jahres im Westen leben, wechseln für zwei Wochen zu Gastfamilien in den Osten, während die AFSlerInnen aus dem Osten zur selben Zeit die Reise in den Westen antreten. Das KSZE- Programm findet in diesen Wochen bereits zum siebtenmal statt: 235 Austauschschülerinnen sind in die neuen Bundesländer und nach Ostberlin gegangen, 63 sind in den Westen gewechselt.
Im brandenburgischen Neuruppin, wo Kirk im letzten Jahr seine KSZE-Zeit bei Familie Kalkreuth verbracht hat, konnte der Amerikaner vor allem das Bild vom „Dunkeldeutschland“ korrigieren, das er während der ersten Monate im Kopf hatte, wenn in Werne die Rede vom Osten war. „In meiner Schule dachten die meisten, ich würde zwei schlimme Wochen in Neuruppin verbringen müssen“, erzählt Kirk. „Einige haben mich vor Rechtsradikalen gewarnt und meinten, ich könne jederzeit nach Werne zurückkommen“.
Daß die Leute im Osten freundlicher und auch interessierter an seinem Land und an seiner Person seien, hat Kirk gleich am Anfang festgestellt, als ihn die MitschülerInnen von KSZE-Schwester Ilka (19) während des einwöchigen Schulbesuchs in Neuruppin mit Fragen bombardierten. Auf einem zweitägigen Seminar in Berlin hatte der AFSler zuvor gemeinsam mit den anderen AustauschschülerInnen über die „Ursachen der deutschen Teilung und Wiedervereinigung“ oder auch die „Situation der Ausländer in Deutschland“ diskutiert.
Doch am spannendsten sind für Kirk die Erzählungen von KSZE- Eltern Inge und Klaus-Dieter Kalkreuth über den Alltag in der ehemaligen DDR. „Unglaublich, daß es in den Läden nur so wenig zu kaufen gab und daß man auf einen Trabi zehn bis vierzehn Jahre warten mußte“, wundert sich der Amerikaner kopfschüttelnd. Dennoch habe er gelernt, „daß auch der Kommunismus seine guten Seiten haben kann“. In der High- School in Kalifornien war das Thema stets tabu.
Kirks Fragen, seine Art, über die Situation in der DDR und im wiedervereinigten Deutschland zu diskutieren, haben auch KSZE- Familie Kalkreuth zum Nachdenken gebracht. „Hier in Deutschland ist jeder ein bißchen voreingenommen, was die politische Situation angeht“, meint Klaus-Dieter Kalkreuth. „Wir im Osten genauso wie die Leute im Westen.“ Er begrüßt es deswegen, daß die AFSlerInnen die deutsch-deutsche Situation als „Unbeteiligte“ unter die Lupe nehmen. Von Reiche sieht das ganz genauso: „Eine Gastschülerin aus Thailand stellt zum Beispiel viel unbekümmertere Fragen nach deutscher Vergangenheit und Gegenwart, als das Ossis und Wessis untereinander tun.“
Durch den innerdeutschen Kurzzeitaustausch, so hofft von Reiche, können mitunter auch Vorurteile abgebaut werden, die West- und Ostdeutsche gegenüber dem jeweils anderen pflegen: „Die Schüler tragen Ansichten und Meinungen hin und her“, erklärt von Reiche. Ein bißchen verschmitzt fügt er hinzu, daß sich der VBA aus diesem Grunde auch nicht um die Organisation der Rückreise der AFSlerInnen kümmert: „Oft bringen die Familien die Austauschschüler mit dem eigenen Auto zurück. Ich habe schon von vielen West-Familien gehört, daß sie dadurch den ersten Kontakt zu einer ostdeutschen Familie hatten.“
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