piwik no script img

Emmas Welt in den kleinen Fenstern

■ Ideenflucht in geschlossenen Räumen mit Hypertext: Die amerikanische Erzählerin Darcey Steinke beweist mit ihrem Stück "Blind Spot", daß die Literatur im World Wide Web nicht unbedingt interaktiv und mul

Emma also. Ausgerechnet Emma ist angekommen in dem neuen Land der Literatur, von dem geschrieben wird, seit das World Wide Web für den Hausgebrauch freigegeben worden ist. Aber dafür interessiert sich Emma nicht, nicht für das Web, nicht für Computer. Nur deswegen ist es ihr wahrscheinlich gelungen, in diese Welt einzutreten, die mißverständlicherweise virtuell genannt wird, tatsächlich aber ein sehr reales Problem ist, wenn es um die literarische Sprache geht. Die Regeln, die hier gelten, sind unbekannt.

Emma findet keine Ruhe, sie ist alleine zu Hause in ihrer Wohnung, die Tür verriegelt. Dave ist beim Baseballspiel, das Baby will gefüttert werden, bekleckert sich. Baden muß es, schlafen soll es, summ, Bienchen, summ. Der Fahrstuhl ist zu hören, Emma späht durch den Türspion. Es ist nichts. Sie geht zur Toilette, erschrickt, weil im Garderobenspiegel wieder dieser Mann zu sehen ist. Der Mann, der neben dem Bücherregal stand? Nein, es ist Emma selber, die in ihrer Welt kreist, eingeschlossen, von einer tickenden Uhr angetrieben, obwohl nichts geschieht an diesem Abend.

Sie denkt nicht, sie assoziiert. Da war Martin mit seinen Eidechsen, und Lill, von der er sich scheiden lassen will, und die Party damals, als Dave erst am Morgen nach Hause kam, dann das Ritual des Streits danach: Das sind Szenen und Figuren, wie sie Darcey Steinke liebt. Letztes Jahr ist ihr letztes Buch erschienen, „Jesus Saves“, die Ballade eines Heranwachsenden in einer amerikanischen Kleinstadt. Bekannter, weil umstritten, wurde die Autorin, die als Kritikerin unter anderem für die Village Voice schreibt und außerdem eine Aufsatzsammlung über das Neue Testament herausgab, mit ihrer Erzählung „Suizide Blonde“: Eine Art Odyssee durch die sexuellen Obsessionen der weniger guten Gesellschaft von San Francisco.

Christliche Sinnsuche, geschlossene Innenräume der Seele, Panik, eine Hetzjagd durchs Leben, die nirgendwo hinführt: Gerade dieses literarisch eher konventionelle Modell erwies sich als besonders tauglich, die Form der Erzählung zu sprengen und die Chancen der Literatur im Web auszuloten. Das ist erstaunlich, weil man gewohnt ist, hier das Gegenteil zu vermuten, Grenzenlosigkeit in jedem Fall, aber auch strammer, multimedial vermittelter Glaube an eine glänzende, kommunikative Zukunft.

Nichts davon beim „Blind Spot“ unter www.adaweb.com/project/ blindspot/ von Darcey Steinke. In der Diskussion um eine mögliche Webliteratur war der Gedanke an eine fröhliche Interaktion, an ein Mitschreiben der Leser, wenn nicht gar an kollektive Autorenschaft bisher beinahe unvermeidlich. Bei Darcey Steinkes erster Arbeit für dieses Medium wird er schon im Keim erstickt. Nicht einmal das Browser-Fenster läßt sich verändern, es ist stur auf 480 mal 600 Pixel eingefroren, auf das Minimum also eines Computerbildschirms. Auf diesem, dem Buchformat entliehenen Platz drängen sich nun aber bis zu zehn sogenannte Frames. Die Teilfenster verengen den Blick auf all die peinlichen Details einer Mittelstandswohnung, eine Tür, ein Waschbecken, das Kind in Windeln, eine summende Biene. Steinkes Text hat nur noch in schmalen Streifen Platz. Er geistert durch die Puppenstube, die zugleich als architektonische Grundrißzeichung in den Fenstern auftaucht. Trotz dieses Plans ist er nie zu überblicken. Einzelne Worte jedoch sind anklickbar. Sie verändern das Mosaik, öffnen weitere Fragmente, die Emmas Gedankenflucht in weiter entfernte Erinnerungszonen dieses Gehirns abirren lassen.

Ein schrecklich einsames Gehirn ist das. Ein Ziel kann es nicht erreichen, eine der vielen möglichen Konfigurationen ist willkürlicherweise die letzte: „The End“ steht plötzlich in einem der Fenster, als sei vorher ein Film gelaufen. Es war aber kein Film, sondern eine Website. Sie erzählt keine Geschichte, sie beschreibt einen Zustand. Gewiß auch den Zustand einer Frau, mehr aber noch den Zustand eines literarischen Textes, der sich auf die Technik des Internets verläßt. Dann fallen Stoff und Form zusammen. Ein blinder Fleck ist das nur für Emma. Darcey Steinke hat einen Punkt höchster Klarheit getroffen. Niklaus Hablützel

niklaus@taz.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen