: Gleichheit ist für viele wichtiger als Freiheit
■ 1994 hat Kohl noch ein Meinungsumschwung kurz vor den Bundestagswahlen geholfen. Den wird es in diesem Jahr kaum geben. Die Wertorientierungen in der Bevölkerung haben sich verschoben
„Die Sicherheit der fast zum Lehrsatz gewordenen Erkenntnis, daß eine Bundesregierung in Deutschland kaum abzuwählen ist, ist dahin.“ Diese aufmunternde These stammt nicht aus der Publizistik der letzten Wochen, sondern von Anfang 1994. Ihr Autor war Dieter Roth, Sozialwissenschaftler bei der Forschungsgruppe Wahlen in Mannheim.
Roth konstatierte für die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP ein Dauertief und sah für sie auch kein „befreiendes issue“ am Horizont – auch nicht in der Ökonomie, deren Stand sich seit 1949 in der Regel als wahlentscheidend erwiesen hatte. „Der Kompetenzverlust in Wirtschaftsfragen für die Regierungsparteien“, schrieb Roth, „wiegt um so schwerer, als er trotz der sich langsam in der Bevölkerung abzeichnenden Einschätzung, das Rezessionstief sei überwunden, weiter bestehen bleibt.“
Offensichtlich irrte sich Roth in diesem letzten Punkt. Irgendwann im Sommer 1994, und zwar insbesondere in Ostdeutschland, schlug die ökonomische Lagebeurteilung („Wir sind über den Berg“) in eine Änderung der ursprünglichen Wahlpräferenz um. Kohl schlug seine entscheidende Schlacht im Osten, wo Parteiloyalitäten weniger ausgeprägt und Wahlentscheidungen stärker von kurzfristigen politischen bzw. ökonomischen Entwicklungen beeinflußbar waren. Die spannende Frage lautet deshalb: Kann sich der Trend 1998 ebenso umkehren wie 1994?
Eine Phalanx empirischer Sozialforscher hält die Wiederholung der Trendwende von 1994 für äußerst unwahrscheinlich. Das Hauptargument dafür lautet: Im Massenbewußtsein der frühen 90er Jahre war noch nicht verankert, daß Wirtschaftswachstum keine Beschäftigungseffekte nach sich ziehen muß. Jetzt aber habe sich die Vorstellung vom „jobless growth“ endgültig herumgesprochen. Deshalb führe eine leichte „Erholung“ auf dem Arbeitsmarkt im Sommer nicht mehr zu einem Stimmungsumschwung.
Außerdem sieht es ganz danach aus, als ob sich in den letzten Jahren die Wertorientierungen in der Bevölkerung grundlegend verschoben hätten. Der Soziologe Wilhelm Bürklin konstatierte noch 1994, daß „postmaterialistische“ Orientierungen weiter auf dem Vormarsch seien. Daher der hohe Stellenwert ökologischer Reformen, neuer Formen der Solidarität mit den Schwachen, Forderungen nach Partizipation.
Die vielfältigen Gerechtigkeitsdiskurse, die heute unsere Gesellschaft durchziehen, verdanken sich aber in erster Linie höchst materiellen Werthaltungen, zum Beispiel der Wertschätzung des Arbeitsplatzes. In ihrem Beitrag vom 25. Februar behauptet die empirische Soziologin Elisabeth Noelle-Neumann in der FAZ, daß bei einer Umfrage die Hälfte der Befragten in Westdeutschland und drei Viertel in Ostdeutschland den Wert der Gleichheit vor den der Freiheit gestellt habe. Die Befragten sahen es mehrheitlich als Aufgabe des Staates an, für genügend Arbeitsplätze zu sorgen, die Sicherung der Renten war sogar für zwei Drittel der Befragten im Westen und drei Viertel im Osten Sache des Staates.
Die Interpretation dieser Daten durch Noelle-Neumann als späte Rache des Realsozialismus kann dahingestellt bleiben. Wichtig ist, daß, auch nach Noelle-Neumann, jetzt der Sozialstaat als überragender Wert angesehen und dringend eingefordert wird. Das könnte sich, anders als 1994, für die Verfechter der Sozialstaats-„Reform“ als verhängnisvoll erweisen. Christian Semler
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