Kirche und Knochenkult

■ Die Gebeine der letzten Zarenfamilie sollen im Juli in St. Petersburg beigesetzt werden

Moskau (taz) – Die russisch-orthodoxe Kirche hegt noch Zweifel, ob es sich bei den seit sechs Jahren von internationalen Expertengruppen inspizierten Gebeinen der Zarenfamilie tatsächlich um die Überreste der 1918 in Jekaterinenburg erschossenen Romanows handelt. Im Dezember legten Wissenschaftler nach DNA-Analysen einen abschließenden Bericht vor, der die Authenzität der Gebeine mit über 99prozentiger Sicherheit untermauerte.

Daraufhin regte Präsident Boris Jelzin an, die Romanows am 17. Juli auf der Peter-und Pauls-Festung in St. Petersburg mit einem Staatsbegräbnis beizusetzen. Rußlands amtierender Zar hätte das höchst symbolträchtige Begräbnis gerne genutzt, um auch für die Gegenwart eine Messe der Reue und gesellschaftlichen Versöhnung zu zelebrieren.

Allein die Kirche gönnt den Toten keine Ruhe. Sie schlug vor, die Überreste zunächst in einem anonymen Grab zwischenzulagern. Ihre Bedenken sind mannigfalter Natur. Monarchisten und erzkonservative Klerikale, die auch die orthodoxen Auslandsfilialen bevölkern, mißtrauen den Funden der sowjetischen und russischen Behörden gleichermaßen. Sie verehren Zar Nikolaus II. auch ohne offizielle Kanonisierung bereits als einen Heiligen.

In den 20er Jahren hatte der Untersuchungsleiter der Weißen Armee, Nikolai Sokolow, behauptet, die sterblichen Überreste seien durch Säure und Feuer völlig vernichtet worden und daher nicht mehr aufzufinden. Die Konservativen halten an dieser Version fest. Die orthodoxe Kirche spielt nämlich mit dem Gedanken, die gesamte Zarenfamilie heiligzusprechen. Sollten sich die zu Reliqien aufgewerteten Knochen eines Tages als falsch erweisen, befürchten die orthodoxen Schamanen ein Kirchenschisma.

Noch ein Motiv erklärt, warum es den Kirchenvätern nicht behagt, die Angelegenheit ein für allemal zu begraben. Schuld und Täterschaft des russischen Volkes wären unwiderruflich aktenkundig. So hatte der Heilige Synod während der Untersuchungen durch Suggestivfragen versucht, die Ermordung des Zaren als Ritualmord einer jüdisch-freimaurerischen Verschwörung aussehen zu lassen.

Im Selbstverständnis der orthodoxen Kirche wäre das die eleganteste Lösung, schließlich hält sie sich und ihr Volk für auserwählt. Nekrophilie ist in Rußland ein allgegenwärtiges Phänomen. Nirgends wird um Tote soviel Aufhebens gemacht. Würde den Lebenden ein Bruchteil jener trauernden Hingabe zuteil – Rußland wäre das Paradies auf Erden. Wahrlich: Indes erst der Tod gebiert einen Menschen. Klaus-Helge Donath