: Was zählt bei einem Wunder schon der soziale Preis
■ Nun freuen sich die Sanierer, daß sich die Roßkur, die sie ihren Ländern verpaßt haben, gelohnt hat. Proteste hat es außer in Frankreich in Italien, Spanien oder Belgien kaum gegeben
So ganz genau verstehen offenbar Italiens Ministerpräsident Romano Prodi und sein Super- Schatzminister Carlo Azeglio Ciampi selbst nicht, wie es ihnen innerhalb von knapp eineinhalb Jahren gelungen ist, Italiens notorisch aus allen Rudern gelaufene Staatswirtschaft Euro-tauglich zu machen. Ein „Wunder“ sei das alles, sagt Prodi. Und Ciampi sieht nun „die infernalischen Torturen eines Euro-Ausschlusses gebannt“, mahnt aber: „Im Paradies sind wir aber noch lange nicht, wir müssen noch durch ein langes Fegefeuer.“
Das Wunder existiert tatsächlich. Es besteht darin, daß ausgerechnet im streikfreudigsten Land Europas niemand ernsthaft gegen die Roßkur protestiert hat, die die beiden Sanierer ihrem Land zugemutet haben. Il manifesto vermutet schon, daß „jemand die Italiener verhext hat, so daß sie gar nicht merken, wie ihnen vorne der Euro hingehalten wird, nur damit ihnen Ciampi hinten die letzte Lira rausziehen kann“.
Da ist was dran. Die Inflationsrate, derzeit mit 1,8 Prozent unter dem europäischen Niveau, wurde mit Hilfe der Erstickung jeglicher Inlandsnachfrage gesenkt, das Verhältnis Neuverschuldung– Bruttoinlandsprodukt (BIP) für 1997 durch eine einmalige Sondersteuer auf 2,7 Prozent gedrückt. Und die Gesamtverschuldung wurde durch eine Zinssenkung um gut zehn Prozent gemindert.
Der Opfermut war es denn auch, der die zunächst tatsächlich eher als „kreative Haushaltsführung“ angelegten Maßnahmen zu einer echten Sanierungswende hat werden lassen. Ermutigt durch den geringen Widerstand, haben Prodi und Ciampi gleich auch noch die nächsten Jahre mit weiteren Opfergängen gepflastert – und erst die bringen tatsächlich die Konsolidierung der Maastricht-Kriterien: Eine Rentenreform saugt den Pensionären gut ein Zehntel ihrer Einkünfte weg, Anrecht auf Krankenversorgung muß man sich durch Glaubhaftmachung ärmlicher Verhältnisse erkämpfen, Arbeitsschutzgesetze fallen reihenweise.
Der immense soziale Preis für die Sanierung wird in solchen Wunderzeiten nicht wahrgenommen. Doch die Rechnung kommt spätestens, wenn Italien im Euro- Verbund drin ist und die Folgen auf lange Zeit zu spüren bekommt. Werner Raith, Rom
Allzu groß war die Spannung in Paris vor Bekanntgabe der Defizitzahlen nicht. Für Frankreich wäre es schlicht undenkbar gewesen, bei der Lancierung der EU-Binnenwährung abseits zu stehen. Die Dreiprozenthürde mußte genommen werden. Ohne diesen politischen Zwang läge das französische Haushaltsdefizit von 3,0 für 1997 zweifellos über der EU-Vorgabe – nicht stark, aber trotzdem. Zum einen ist die Jahresrechnung laut Experten etwa um 0,3 Prozent zu „optimistisch“; sie beruht teilweise erst auf Schätzungen des nationalen Statistikamtes Insee, das seine definitiven Zahlen normalerweise erst im April vorlegt. Mit kleineren buchhalterischen Tricks, etwa bei der Defizitfinanzierung der Sozialversicherung, wird der Fehlbetrag um ungefähr ein weiteres halbes Prozent gedrückt.
Der nun vorgelegte Defizitbetrag beträgt bei genauer Betrachtung 3,05 Prozent, was vom Wirtschaftsministerium abgerundet wird. Damit halten die Franzosen die deutsche „Dreikommanull“- Grenze ein, nachdem sie vor einem Jahr auch ein Defizit von 3,5 Prozent als zulässig betrachteten. Dies ist jetzt nicht einmal notwendig. Frühere Wirtschaftsminister hatten zudem viel stärker geschummelt als Dominique Strauss-Kahn, um das Staatsdefizit zu drücken.
Die Regierung in Paris profitiert allerdings auch von den verbesserten Konjunkturaussichten; sie stabilisieren das Budget weitgehend. Eine langfristige Reduzierung des Fehlbetrages werden sie aber kaum erlauben: Die Arbeitslosenverbände verlangen von der Linksregierung um so vehementer eine „Wachstumsdividende“, als Strauss-Kahn die Prognosen für die Zunahme des BIP für 1998 auf 3 Prozent erhöht hat.
Politiker und Medien reagierten gestern in Paris erleichtert, aber auch leicht zerknirscht auf die Euro-Kennzahlen. Vielerorts wurde darauf verwiesen, daß Frankreich in Sachen Defizit das europäische Schlußlicht bilde. Um so zufriedener ist man, daß Deutschland wenigstens bei der Staatsschuld hinter Frankreich liegt. Stefan Brändle, Paris
Trotz einer Staatsverschuldung von 122 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ist die belgische Regierung felsenfest davon überzeugt, die Hürden für die Währungsunion geschafft zu haben. Das ist nicht einmal unrealistisch. Denn der Maastrichter Vertrag sieht zwar eine Gesamtverschuldung von höchstens 60 Prozent vor, erlaubt aber Ausnahmen, wenn „spürbare und anhaltende Fortschritte“ gemacht wurden.
Und da hat Belgien einen Kraftakt vorzuweisen. Während die meisten anderen EU-Regierungen in den letzten Jahren ihre jährliche Neuverschuldung lediglich drosselten, hat Belgien seit 1993 den Schuldenberg von über 136 Prozent um fast ein Zehntel abgebaut. Der Verkauf von 700 Tonnen aus den nationalen Goldreserven hat dabei die kleinste Rolle gespielt, das hat gerade mal zwei Prozent gebracht. Die belgische Regierung hat vielmehr wirklich gespart.
Grund dafür waren nicht so sehr die Euro-Kriterien, sie haben der Regierung lediglich geholfen, die traditionell spendierfreudigen Parteien zu disziplinieren. Denn der Schuldendienst für die in den 70er und 80er Jahren aufgehäuften Staatskredite hatte den öffentlichen Haushalten längst jeden Spielraum für politisches Handeln genommen. Zeitweise gingen bis zu 40 Prozent des Budgets für Zinsen und Tilgung ab. 1993 hat die Mitte-Links-Koalition unter dem Christdemokraten Jean-Luc Dehaene deshalb auf einen harten Sparkurs umgeschwenkt, der mittlerweile überall im Land zu spüren ist. Die Brüsseler Straßen etwa haben inzwischen die Qualität von Schotterwegen, Theater- oder Konzertkarten kosten ab 60 Mark aufwärts, weil die Subventionen zusammengestrichen wurden. Da auch die Zuschüsse für die Krankenkassen drastisch gekürzt wurden, müssen Patienten beim Arzt und in der Apotheke bis zu 60 Prozent selbst zahlen.
Die meisten Belgier scheinen die Einschnitte akzeptiert zu haben, es gibt kaum Proteste. Das mag auch daran liegen, daß sich die Aussicht auf den Euro bereits jetzt auszahlt. Denn seit die Finanzmärkte Belgien zu den sicheren Euro-Teilnehmern rechnen, sind die langfristigen Zinsen auf das niedrige deutsche Niveau abgesunken. Das hat den öffentlichen Schuldendienst um jährlich einige Milliarden erleichtert. Das Haushaltsdefizit ist dadurch von über 6 auf 2,1 Prozent gesunken, weit unter die Maastricht-Marke von 3 Prozent. Daß trotz dieser Neuverschuldung der Gesamtschuldenstand sinkt, liegt daran, daß das Bruttoinlandsprodukt real um mehr als 2,1 Prozent wächst; der Schuldenstand wird am BIP gemessen. Ironie der Geschichte: So nützlich der Schuldenabbau für die Handlungsfähigkeit der Regierung ist, so wenig hat er Einfluß auf die Währungsstabilität. Seit über 70 Jahren unterhält der Rekordschuldner Belgien eine funktionierende Währungsunion mit dem Musterschüler Luxemburg. Und der belgisch-luxemburgische Franc war auch vor dem Brüsseler Sparprogramm so hart wie die Mark. Alois Berger, Brüssel
Das konnte sich José Maria Aznar nicht nehmen lassen. Der spanische Regierungschef lehnte sich auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Helmut Kohl am Ende des deutsch-spanischen Gipfeltreffens am letzten Dienstag in Madrid gelassen zurück und kündigte an: „Wir haben unsere Hausaufgaben besser gemacht, als viele denken. Wenn jetzt die Zahlen veröffentlicht werden, wird das für so manchen eine Überraschung sein.“
So war es: Spanien schneidet bei den Kriterien für die Währungsunion besser ab als die Musterknaben an Rhein und Seine. Während Bonn 2,7 Prozent Haushaltsdefizit und Paris gar 3,0 Prozent eingestehen müssen, verweist Madrid stolz auf 2,6 Prozent. Die Staatsverschuldung fiel von 70,1 Prozent 1996 auf 68,3 im letzten Jahr. Inflation (1,9 Prozent) und Zinsen (6,4 Prozent) erreichten 1997 historische Tiefstwerte.
„España va bien“, Spanien geht es gut, jubelt Aznar immer wieder in laufende Fernsehkameras. Ein Wirtschaftswachstum von 3,4 Prozent hätte dieses überraschende Ergebnis ermöglicht. Was Spaniens konservativer Regierungschef gerne verschweigt: Auch er hat kräftig in die Trickkiste gegriffen, um beim Euro von Anfang an mit dabei zu sein.
Neben einem harten Sparkurs, der die Aktivitäten vieler Ministerien, allen voran Erziehung und Öffentliche Arbeiten, so gut wie zum Erliegen brachte, mußten vor allem die Staatsbediensteten für den Schritt nach Europa Federn lassen. Sie warteten in den letzten Jahren dreimal vergebens auf die jährliche Gehaltserhöhung. Um die zehn Prozent Kaufkraft haben sie laut Gewerkschaften eingebüßt. Defizitäre öffentliche Betriebe wurden kurzerhand vom Tropf des Staatshaushalts abgehängt. Statt dessen wurde ihnen gesetzlich die Möglichkeit eingeräumt, sich noch höher zu verschulden. Allein beim öffentlichen Rundfunk und Fernsehen RTVE ersparte sich Aznar im letzten Haushaltsjahr zwei Milliarden Mark mehr an Defizit.
Mit der Privatisierung der rentablen Staatsbetriebe verschaffte sich die Regierung eine willkommene Finanzspritze von umgerechnet über fünf Milliarden Mark. Der Kommunikationsriese Telefónica, der Bankenverbund Agentaria, der Erdölkonzern Repsol, die Erdgasgesellschaft Gas Natural – der Ausverkauf ist vorbei.
Um bei den Hausaufgaben auch künftig gut abzuschneiden, muß Aznar ans Eingemachte ran. Die Liste der 600 Medikamente, für die seit ein paar Wochen die Krankenkasse nicht mehr aufkommt, ist nur ein Anfang. Reiner Wandler, Madrid
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen