: Nicht am Ende des Tunnels
Irgendwo muß er sein, der unterirdische Gang vom Schanzenbahnhof zur Lagerstraße. Mit Kino-Betreiber Jens Meyer sucht ■ Heike Haarhoff
„Unter dem Sternschanzenbahnhof ist ein Fußgängertunnel von der Lagerstraße nach der Straße ,An der Sternschanze' vorgesehen“: Ein prächtiges Angebot machte die Baufirma Project J.J.W. Peters und Genossen dem Hamburger Senat um die Jahrhundertwende. Im Zuge der Neugestaltung des Sternschanzenbahnhofs, der 1903 feierlich eingeweiht wurde, schlugen Peters und Genossen vor, durch neue, „viergleisige Bahnüberführungen“einerseits und den Fußgängertunnel andererseits sämtlichen „Verkehr nach dem Viehhof“im nahen Karo-Viertel besser an den Güterbahnhof Sternschanze anzubinden. Für preisgünstige „M 60,000.-“, wie es das Unternehmen in seinem „Kosten=Anschlag der Hochbahn= und Straßen=Anlagen“auflistete, sei der Fußgänger-Tunnel zu buddeln.
So ein Angebot schlägt man doch wohl nicht aus, und folglich muß der Tunnel „irgendwo auch sein“– nur wo? Jens Meyer rauft sich die Haare. Nahezu ein Jahrhundert ist seit der Tunnelplanung vergangen, und nun sitzt er, Betreiber des Hamburger Kinos 3001, grübelnd über Plänen, Skizzen und Baubeschreibungen, derer er sich im Hamburger Staatsarchiv bemächtigt hat.
Wenn es den Tunnel gibt, und diese Vorstellung läßt den Kino-Mann seit einigen Wochen nicht mehr los, dann, frohlockt er, „sind es nur noch 120 Meter“. 120 Meter Fußweg vom vermeintlichen Tunnelausgang an der Lagerstraße bis zur Sternstraße, wo Meyer ein weiteres Kino mit 400 Sitzen namens „4001“plant. Eine Strecke, die sich bequem zu Fuß zurücklegen läßt.
Das jedenfalls würde Meyer seinen künftigen Kinobesuchern schmackhaft machen wollen: Sie sollen ihr Auto – wenn sie schon nicht mit U- oder S-Bahn anreisen – am Bahnhof Sternschanze parken, flugs durch den Tunnel schreiten, die letzten – 120 – Meter oberirdisch zurücklegen und sich in die Kinosessel fallen lassen. So würde das dicht besiedelte Karo-Viertel nicht durch abendlichen Kinobesucher-Verkehr belastet werden.
Eine brillante Idee – ließe sich bloß der verdammte Tunnel auffinden. Jens Meyer macht sich auf die Spurensuche, zunächst vor Ort und in Begleitung der Verkehrsinitiative Karo-Viertel und der taz, die sein Unterfangen photographisch dokumentieren wird. Der Weg führt über das S-Bahngleis Sternschanze, dann geht es die Treppen in Richtung U-Bahn hinab. Gleich am ersten Treppenabsatz rechts: eine geheimnisvolle Stahltür, die offensichtlich seit langer Zeit nicht geöffnet worden ist, aber den Archiv-Plänen nach Zugang zum unterirdischen Gang verspricht.
Ein freundlicher Bahnbediensteter mit Schlüsselgewalt macht den Weg frei, die Tür springt auf, und zwei Dutzend erwartungsvolle Augen blicken – frontal vor eine Wand: Nach nur zehn Metern – „großzügig geschätzt“, sagt der Photograph – endet der dunkle Gang, zugestapelt mit Schutt und Baustellengerät, vor einer Mauer.
Das kann, darf nicht wahr sein. Fassungslosigkeit macht sich breit. Sollte der Tunnel zugemauert worden sein? Oder stillgelegt und zugeschüttet von einem, der unterirdische Baudenkmäler nicht zu schätzen wußte? Es läßt sich nicht herausfinden. Und die Mauer gibt einfach nicht nach.
Lediglich eine schmale, bemooste Treppe, die rechts von der Wand nach oben führt, läßt noch ein wenig hoffen. Doch die Enttäuschung holt einen spätestens auf der letzten Stufe wieder ein: Über uns der Winterhimmel, vor uns ein stillgelegter Bahnsteig. Zur Lagerstraße führt auch dieser Weg nicht.
Die Verkehrsinitiative verkrümelt sich, die taz fröstelt, doch Jens Meyer kennt kein Verzagen. Wer von einer Idee besessen ist, macht weiter und Jens Meyer sich auf nach Berlin. Für eine ganze Woche. Sucht eine Frau, Ulrike Wendland, die seinerzeit in Hamburg eine Magisterarbeit über den vermeintlichen Tunnel und andere Bauwerke der Hochbahn geschrieben haben soll. Findet sie – inzwischen Dr. Ulrike Wendland –, um zu erfahren, daß offensichtlich alles ein großes Mißverständnis war. Über den Tunnel hat die Wissenschaftlerin nicht geforscht.
„Etwas traurig alles“, seufzt der Kinobetreiber nach seiner Rücckehr. „Wir können nicht beweisen, daß es den Tunnel gibt.“Er will jetzt nochmal ins Hamburger Hochbahn-Archiv – oder vielleicht doch lieber der Stadt vorschlagen, daß sie das Angebot für preisgünstige „M 60.000.-“endlich realisieren soll?
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