: Sprache jenseits der Lesbarkeit
■ Die Video-Künstlerin Betty Leirner gastiert mit ihren Filmen und Wortinstallationen im Filmhaus
Von seiner Mutter getötet, wird ein Kind auf einem anderen Planeten wiedergeboren. Das Kind heißt „Nie“und lebt zurückgezogen mit seiner besten Freundin „Musik“. Als er das Mädchen „Immer“trifft, verliebt er sich sofort. „Nie gab Immer Liebe. Immer gab Nie alles. Nie gab Immer nichts.“Während ein kleines Mädchen auf dem Boden kauert, läuft der Text in Leiste über ihren Kopf hinweg. Sie schaut sichtbar angestrengt nach oben, hört die Musik und wirkt ganz so, als ob sie die Wörter lesen und das „Märchen“verstehen könnte.
Betty Leirners „Videopoems“sind hermetisch. Ohne Rücksicht auf den Wunsch nach Eindeutigkeit kreuzen sie ihre Bedeutungsklingen. Sie lassen Menschen- und Tiersprachen, Gesang und Text aufeinandertreffen, spielen mit der Spannung, die sich ergibt, wenn vermeintlich weit voneinander entfernte Bedeutungssysteme sich begegnen. Ein Mann und eine Frau sitzen sich gegenüber. Sie bewegen sich nicht, schauen sich ruhig und versunken an. Es dauert einen Moment, bis man als Betrachter versteht, daß die Walgesänge, das „Lied“aus dem Off, die Menschenworte abgelöst und die Verständigung zwischen den Personen vertieft haben.
Die brasilianische Künstlerin, die seit 1991 in Hamburg lebt, arbeitet im Feld des Paradoxen. Sie überschreitet die üblichen Barrieren der Verständigung, setzt in ihren Filmen und Hörstücken die Konventionen der Verständigung außer Kraft: Ein Satz etwa kann 25 Meter lang sein (1994 bis 1996 war das in einer Dauerausstellung im Literaturhaus Hamburg zu sehen). Oder ein Buch (Les êtres lettres, 1990) darf durchsichtige Buchstaben auf durchsichtigen Seiten haben und jeder gängigen Vorstellung von Lesbarkeit spotten.
Die 39jährige Künstlerin, die nach ihrem Filmstudium einige Jahre als Bäuerin in den Bergen verbracht hat und die ihren bevorzugten Werkstoff Video als „hybrides Material aus Illusionen und Sprachen“definiert, stellt die Ordnung grundsätzlich in Frage. Ihre Bilder sollen nichts beweisen, nichts abbilden oder vermitteln. Statt dessen verweigern sie die Aussage und provozieren an den Grenzen der Übersetzbarkeit. Auch wenn sich das manchmal an einem mächtigen theoretisierenden Überhang abspielt, wenn das Jonglieren mit großen Begriffen an manchen Stellen überflüssig und angestrengt wirkt – der Augenblick, in dem die fremden Stimmlagen ihr überraschendes Gleichgewicht finden, ist zweifellos ein poetischer.
Elisabeth Wagner
heute, 20.30 Uhr, Filmhaus, Friedensallee 7
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