: Litauer wegen NS-Verbrechen vor Gericht
■ Dem 90jährigen Aleksandras Lileikis wird ab heute in Vilnius der Prozeß gemacht. Er soll den Mord an litauischen Juden befohlen haben
Warschau (taz) – Der Angeklagte braucht persönlich nicht vor Gericht zu erscheinen. Aleksandras Lileikis ist 90 Jahre alt und leidet immer noch unter den Folgen eines Schlaganfalls. Doch die Verbrechen, die ihm zur Last gelegt werden, sind so schwerwiegend, daß das litauische Parlament im Dezember des vergangenen Jahres das Strafgesetzbuch änderte. Heute kann nun mit zweijähriger Verspätung das Verfahren in Abwesenheit des Angeklagten eröffnet werden.
Aleksandras Lileikis, der während des Zweiten Weltkriegs Chef der litauischen Geheimpolizei „Saugumas“ in Vilnius war, soll eng mit Hitlers Einsatzgruppen zusammengearbeitet haben. Er persönlich, so Staatsanwalt Kazimieras Kovarskas, habe den Befehl gegeben, jüdische Kinder, Frauen und Männer entweder direkt zu erschießen oder an die Nazi-Schergen auszuliefern. Zum Beweis will Kovarskas entsprechende Dokumente mit der Unterschrift Lileikis vorlegen.
Im Verlauf des Krieges war die Zahl der Juden in Litauen von knapp 150.000 auf eine Viertelmillion angestiegen. Stalin und Hitler hatten wenige Tage vor ihrem Überfall auf Polen in einem „Nichtangriffspakt“ eine neue Grenzziehung zwischen den aufzuteilenden „Interessengebieten“ vereinbart. Wilna, das Polen im Jahre 1923 endgültig annektiert hatte, fiel zurück an Litauen, dafür aber verlor die unabhängige Republik ihre Souveränität. Kirchen und Synagogen wurden geschlossen, das Eigentum verstaatlicht.
Als im Juni 1941 die Deutschen die Sowjetunion überfielen, gelang es ihnen, den Zorn der Litauer auf die früheren Sowjetbesatzer umzulenken: „die Juden“. Zwar waren diese auch enteignet worden, doch hatten sie erstmals Posten innerhalb des Staatsapparates übernehmen können. Für die Litauer war das „Verrat“. Überall im Lande metzelte der Pöbel gemeinsam mit den Einsatzgruppen jüdische Frauen, Kinder und Männer nieder. Die meisten der über 200.000 Opfer wurde in Litauen selbst ermordet, die anderen in Auschwitz oder anderen deutschen Vernichtungslagern.
Lileikis floh 1944 vor der Roten Armee in die Vereinigten Staaten. Er wurde amerikanischer Staatsbürger und lebte dort über 50 Jahre lang als unbescholtender Mann. Erst vor zwei Jahren ermittelten US-Staatsanwälte, daß es sich bei Lileikis um einen „der größten Kriegsverbrecher Litauens“ handeln müsse. Die Staatsbürgerschaft wurde ihm aberkannt, und Lileikis mußte in sein Heimatland zurückkehren.
Dafür, daß die Anklage nicht doch noch fallengelassen wurde, sorgte vor allem Efraim Zuroff, der Chef des Simon-Wiesenthal- Zentrums in Jerusalem. Er warf den Litauern immer wieder vor, die eigene Beteiligung an den Verbrechen des Holocaust für ein eher unwichtiges Problem zu halten und Nazi-Kollaborateure nicht vor Gericht zu stellen. Auch die amerikanische Justizministerin Janet Reno schien die Prozeßvorbereitung in Litauen genau beobachtet zu haben. Anfang Februar erklärte sie, unmittelbar nachdem die Anklageschrift fertiggestellt war, daß dies ein „Meilenstein“ in der Aufarbeitung der litauischen Kollaboration mit den Nazis sei.
Aleksandras Lileikis selbst streitet jede Schuld ab. Sein Anwalt Algimantas Matusia meint gar, daß sein Mandant nicht nur fälschlich für einen Kriegsverbrecher gehalten werde, sondern in Wirklichkeit sogar ein Widerstandskämpfer gewesen sei, der es verdiene, als Held in die Geschichte Litauens einzugehen. Gabriele Lesser
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen