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„Propaganda gegen Sittenfiffis“

■ JVA-Prozeß: Zeuge behauptet, die Beamten hätten sich auf der Brücke über die Mißhandlungen „totgelacht“/ Häftling sei privilegiert worden, um ihn zu Prügelaktionen heranzuziehen

Der Hauptbelastungszeuge im sogenannten JVA-Prozeß hat die Häftlinge und die Beamtin Sandra B. gestern vor dem Amtsgericht schwer belastet. Während drei der vier angeklagten Häftlinge einen mutmaßlichen Sexualstraftäter verprügelten, hätten die JVA-Beamten Jürgen N. und Sandra B. „auf der Brücke gestanden und sich totgelacht“, sagte der Zeuge, ebenfalls Häftling der JVA, aus. Derzeit müssen sich vier Insassen und eine JVA-Beamtin wegen Körperverletzung vor dem Amtsgericht verantworten. Den Häftlingen wird zur Last gelegt, mutmaßliche Sexualstraftäter verprügelt und zum Teil schwer verletzt zu haben. Die Beamtin soll ihnen zu diesem Zweck die Zellentüren aufgeschlossen haben. Sowohl die Häftlinge als auch die Beamtin bestreiten die Taten. Darüber hinaus stehen acht weitere JVA-Beamte, darunter auch der von dem Zeugen genannte Jürgen N., unter Verdacht, Häftlinge mißhandelt zu haben. Ihnen soll Ende April der Prozeß gemacht werden.

Die Beamtin Sandra B. habe in einem Fall die Tür aufgeschlossen und sei vor der Zelle stehengeblieben, um die Mißhandlungen zu beobachten, sagte der Zeuge weiter. „Das kannst du jetzt jeden Tag haben“, soll sie dem Geschädigten anschließend zugerufen haben. Einer der jetzt angeklagten Häftlinge, ein kräftiger Mann mit Body-Builder-Figur, sei nur zum Hausarbeiter gemacht worden, um ihn zu den Prügelaktionen heranzuziehen, berichtete der Zeuge weiter. Hausarbeiter sind besonders privilegierte Häftlinge, deren Zellen tagsüber offen stehen, damit sie den Beamten z.B. bei der Essensausgabe zur Hand gehen können. Der Häftling sei auf die Beamtin Sandra B. „abgeflogen“und hätte sich von ihr „mitreißen“lassen, so die Einschätzung des Zeugen. Später habe sich der Häftling sogar „damit gebrüstet“, einem mutmaßlichen Sexualstraftäter das Jochbein zertrümmert zu haben. Die Beamten hätten im Knast regelrecht „Propaganda“gegen Sexualstraftäter gemacht und lautstark kundgetan, daß „das neue Mitglied in unserer Gemeinschaft ein Kinderficker ist“. Der Zeuge steht derzeit unter besonderem Schutz, weil er vor seiner Aussage offenbar bedroht worden ist. „Dich kriegen wir auch noch“, soll ihm ein Mithäftling angedroht haben. Die Staatsanwaltschaft hat diesbezüglich ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Die Verteidiger bestreiten die Glaubwürdigkeit des Zeugen, der in erster Instanz als Mörder verurteilt worden ist. Seine Aussage vor Gericht und die Aussage vor der Kripo seien voller Widersprüche. So behauptete er vor der Kripo, die Beamtin Sandra B. habe in einem Fall noch mit dem Schlüssel im Schloß vor der Zellentür gestanden. Vor Gericht will er die Beamtin noch nicht einmal mehr in der Nähe der Zelle gesehen haben. Daß er vor seiner Aussage in der Tat detaillierte Kenntnisse über die Anklagevorwürfe gehabt habe, räumt der Zeuge ein. Der Kripobeamte hätte ihm aus der Akte vorgelesen und gesagt: „Du brauchst gar nichts zu sagen, ich les' Dir vor.“Der Kripobeamte bestreitet das, räumt aber ein, den Häftling mit den „Auszügen“einiger Aussagen konfrontiert zu haben. In der Verhandlungspause wurde der Zeuge von dem Staatsanwalt dabei ertappt, wie er in der Anklageschrift blätterte. Um eine vorurteilsfreie Aussage machen zu können, dürfen Zeugen die Anklageschrift nicht kennen. Der Zeugenbeistand des Häftlings hatte ihm die Anklageschrift kopiert. Der gemeinschaftliche Antrag der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung, den Zeugenbeistand zu entlassen, wurde allerdings abgelehnt. Kerstin Schneider

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